Der Baum der Kindheit

 

Auf einer „Lindenstraße“ mal so eben acht von zehn mindestens hundertjährigen Linden mit Steiger und Kettensäge durch Laienhand ihrer Schönheit und vor allem ihrer Vitalität zu berauben – vermutlich, weil Mitbürger mit genug Vitamin „B“ in der Hinterhand sich mit lokalen Entscheidungsträgern kurzgeschlossen haben. Da kommt schon heftiger Bürgerunwille auf, und das nicht nur bei mir.

 

Aber bin ja nur zugezogen, vor zwölf Jahren erst, als schon ziemlich alter Knacker. Ich kann nicht mitreden, wenn es um das Zusammenleben der Leute hier in diesem Bördedorf während 40 Jahren DDR geht, um die Sachen, die bis heute das Hintergrundrauschen der dörflichen Gesellschaft mitbestimmen, das Kleingedruckte, wie die Leute ticken, eben. Die sozialen Realitäten, bei denen ich mitreden kann mit meiner westdeutschen und international eingefärbten Biographie, interessieren hier weniger. Also gestehe ich: ich bin nicht ohne Hemmungen, wenn mir eigentlich danach ist, einer hiesigen „Obrigkeit“ in einer Frage des Allgemeinwohls die Leviten zu lesen. Im Ruhrgebiet war das für uns kritische Bürger immer anders, auch leichter.

 

Darum hat mir diese Stimme eines alten Menschen so sehr geholfen. Ganz schlicht, er scheint ein wenig nach Worten zu suchen, spricht er davon, wie schlimm er den Anblick der zusammengestutzten Bäume findet, um dann in eine andere Zeit zu springen. „Die Bäume waren ja schon da, als ich noch klein war. Sie waren damals schon groß. Unter den Bäumen haben wir aus Herbstlaub Hütten gebaut und darin gespielt.“ „Ja, so war das,“ setzt die Stimme noch einmal an. Mehrfach dreht sich das einfache Gespräch im Kreis, wie um die Wahrhaftigkeit der Aussage zu beschwören. Zugleich ist es erkennbar das, was man aus der Distanz Trauerarbeit nennen kann.

 

Ein bodenständiger Mensch, der seit der Kindheit bis in seine alten Tage diese großen Linden zu seiner Welt gezählt hat, versteht diese Welt nicht mehr, jedenfalls einen Teil von ihr, an dem sein Herz gehangen hat. Inzwischen weiß ich, dass diese Stimme, die sich große Mühe gegeben hat, mit uns Zugezogenen und sogar etwas Berüchtigten zu sprechen, nicht nur diesem einen Menschen gehört, der um die Linden echte Trauer trägt. Auch zu der Zeitenwende vom Nazireich zur DDR bzw. zur alten BRD, als diese jetzt trauernden Alten die Dorfkinder waren, waren Bäume imstande, zu Kindern zu sprechen; und Kinder hatte ihre Art zu antworten. Und wenn das Kurzzeitgedächtnis gelitten hat, die alten Herzensangelegenheiten sitzen.

 

Ich fürchte, dass keine Baumschutzsatzung, wo es sie denn gibt, keine Umweltrichtlinie, die den Umgang mit Bäumen im öffentlichen Raum reguliert, dieses Recht auf den Baum der Kindheit in Paragraphen fassen kann, vorausgesetzt, dieser Baum lebt noch. Aber bei der unterschiedlichen Lebensspanne beider Kreaturen, Baum und Mensch, kann der Fall eigentlich nicht so selten sein.

 

Aber was die Paragraphen nicht fassen, das sollten die Bürgerinnen und Bürger einer intakten Kommune in ihre Hände nehmen und in ihre Willensbildung einfließen lassen. Meine Befangenheit jedenfalls, für die wenigen großen Bäume eines Dorfes, in dem ich ein Zugezogener bleiben werde, den Mund aufzumachen, ist durch diese Erinnerung aus der Nachbarschaft deutlich geschwunden.

 

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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