Notruf 2015

Wo bist du damals gewesen? Bei unvergesslichen Tagen der Zeitgeschichte ist das eine beliebte Frage. Was die für uns alle lebensgefährliche Kubakrise vom Oktober 1962 angeht, kann ich die Frage beantworten: in der Kneipe am Duesbergbusch, Ecke Kappenberger Damm in Münster/Westfalen. Nicht, weil mir nach Saufen zumute war, sondern weil es in unserer Familie noch keinen Fernsehapparat gab.
Das Hinterzimmer beim Wirt war während der kritischen Tage rappelvoll. Wir hingen am Schwarz-Weiß-Bildschirm in der bangen Hoffnung, dass die Supermächte sich doch noch irgendwie aus dem nuklearen Show-Down heraus schleichen würden. Das hier war kein Western mit einem heldenhaften Sheriff und einem Banditenhäuptling auf verlorenem Posten. Das war eine Reality-Show unter Einbeziehung des Publikums: „Wer als erster schiesst, stirbt als Zweiter.“

Wie alle kleinen Leute, wusste ich damals nur, was wir wissen sollten. Wir konnten nicht wissen, in welche haarsträubenden Situationen einzelne Soldaten beider Seiten auf dem Höhepunkt der Krise tatsächlich geraten sind; als kein Präsident, kein Generalsekretär, noch nicht einmal ein militärischer Vorgesetzter einem durchschnittlichen Offizier die Entscheidung abnehmen konnte, ob er auf einen bestimmten Knopf drücken sollte, weil der Drill das eigentlich verlangt hätte. Nichts war es mehr mit rationalem, immer um Auswege bemühten Krisenmanagement.

Menschheit und Schöpfung haben einfach Glück gehabt. Jede und jeder mag das in seiner Weltanschauung buchen, wie es passt. Ein zweites mal durften die Herren über das Selbstmord-Arsenal der Menschheit nicht auf rettendes Glück spekulieren. Darum erfuhren wir Weiterlebenden bald nach der akuten Krise von dem „Heißen Draht“, der künftig Washington und Moskau verbinden sollte, für den Fall, dass es einmal um Minuten gehen würde. Der „Draht“ war kein Telefon, sondern eine Fernschreibverbindung. Technisch stand sie 1963. Anschließend ging der „Heiße Draht“ als Symbol für politische Vernunft in unsere Sprache ein. Organisatorisch mussten wir uns den „Heißen Draht“ weniger als Verbindung zwischen den Schreibtischen der Bosse vorstellen. Wichtiger, verzweifelt wichtiger, ist es, den Handwerkern des Kriegsgeschehens eine letzte Chance zur Aufklärung von entsetzlichen Missverständnissen zu geben – dann, wenn die „ganz Oben“ bereits aus dem Spiel sind.

Wie oft der „Heiße Draht“ bis zum Ende der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Paktes von Nutzen war, wissen wir nicht. Was wir heute wissen, ist, dass es in den knapp drei Jahrzehnten nach 1963 unbestritten einige lebensgefährliche Missverständnisse zwischen Ost und West gegeben hat. Nach 1989 hing die Leitung dann in der Luft. Sowjetunion? Kein Anschluss mehr unter dieser Nummer!
Jetzt, fast auf den Tag 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, erfahren wir eher beiläufig, dass die Kommandozentralen der NATO und der Russischen Föderation sich künftig im Notfall direkt anrufen dürfen, ohne vorher das Okay ihrer politischen Herren einzuholen. Deutschlands Außenminister soll die Sache auf den Weg gebracht haben. Eine gute Nachricht in weniger guter Zeit. Präsidenten, Kanzlerinnen und wer sonst in ihrer Liga mitspielt, sind sich 2015 via Handy, Blackberry, Video-Konferenz, ordinärem Telefon sehr viel näher, als Kennedy und Chruschtschow es 1962 waren. Aber Machtpolitik der groben Art, à la Ukraine-Konflikt, wird von Menschen gemacht, die sich auch heute noch schrecklich missverstehen können.
Gerade deshalb sind Reaktionen und Gegenreaktionen im Vorfeld eines Krieges, den niemand will, weitgehend standardisiert; dem Regime von Computerprogrammen nach der Logik „wenn- dann“ unterworfen. Wir müssen davon ausgehen, dass es Krisensituationen gibt, in denen die politischen Oberbefehlshaber aus dem Spiel sind; in denen beobachtete Phänomene in Minutenschnelle interpretiert und bewertet werden müssen. Das hat es nach 1063 gegeben und das kann es wieder geben.
Es ist bitter, dass die tatsächliche Abschaffung der Massenvernichtungswaffen bis heute eine Vision geblieben ist. Aber weil das so ist, ist es vernünftig im besten Sinn des Wortes, dass die eigentlichen Praktiker des Schreckens jetzt wieder per Notruf miteinander verbunden sind.

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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