Wir sind alle Überlebende

Gestern Abend haben wir noch gefeixt, meine Lebenskumpanin und ich. Um halb Neun habe ich sie daran erinnert, dass sie jetzt nur noch dreieinhalb Stunden Zeit hätte, von ihrem Umtauschrecht für Männer Gebrauch zu machen. Sie wissen doch: Männer dürfen bei Nichtgefallen umgetauscht werden, aber nur bis zum 75. Geburtstag. Sie hat es verschlafen. Nun sitze ich hier am frühen Morgen. Und der Kalender stellt ohne Umschweife fest, dass in meinem Fall die 75 voll sind. Umtausch ab sofort ausgeschlossen. Jetzt müssen wir das Beste aus der Goldenen Hochzeit machen.

Meine Frau schläft noch, hoffentlich noch lange genug, dass ich diese wenigen Sätze zu Ende bringen kann. Dabei könnte sie, nur zwei Jahre jünger, selbst Vieles beitragen zu den Gedanken, die Fünfundsiebzigjährigen unserer Generation unweigerlich durch den Kopf gehen.
Wir sind ja alle Überlebende; Kinder, die die Todesgefahren des Zweiten Weltkrieges überlebt haben, die einen von uns vor allem Bombennächte, die anderen, so, wie wir beiden Kriegskinder, die Wochen und Monate völliger Entwurzelung auf der Flucht und unmittelbar danach. Unser eigenverantwortliches Erwachsenenleben hat nur deshalb seine Zeit, weil damals andere Erwachsene fast alles taten, um die Kinder durchzubringen.
Wer waren die, denen das gelang? Die daraus allerletzte Kraftreserven und Lebenswillen schöpften. Die, denen es gelang, ihre Kinder zu retten. Die ungezählten Anderen, die irgendwo Kindergräber in gefrorene Ackerränder hacken mussten?
Eine der vielen Varianten dieser Suche ist die meine: für eine paar Minuten habe ich wieder einmal das jetzt 75 Jahre alte gerahmte Schwarz-Weiß-Foto von der Wand genommen.
Offenbar eine Aufnahme aus einem Fotografenstudio vergangener Tage: meine fünfzwanzigjährige Mutter mit mir, einem offensichtlich missgelaunten Wonneproppen von vielleicht sechs Monaten, also im Herbst 1940. Natürlich: ich kenne das klare Gesicht der jungen Frau. Aber es ist mir nicht vertraut. Es löst nicht diesen Wasserfall von Erinnerungen aus, wie manches andere Gesicht von Menschen, die in meinem Fühlen und Tun ihre Spuren hinterlassen haben. Die junge Frau, auf deren Schoß ich den Fotografen angifte, ist zu früh einen bitteren Tod gestorben, in den Tagen unmittelbar vor der Flucht. Bis zu ihrem letzten Lebenstag, bis der letzte Funke an Lebenswillen erlosch, kämpfte sie um ihr Kind. In mir aber muss ihr Tod und das Chaos danach eine undurchdringliche Sichtblende vor die Jahre unter ihrer Sonne geschoben haben. Was gesunde Fünfjährige üblicherweise im Gedächtnis behalten, ist bei mir gelöscht. Im IT-Zeitalter fühle ich mich an die Unerbittlichkeit der Löschtaste erinnert.
Dabei helfen mir diese gelöschten Sonnenscheinjahre wohl bis heute, mitunter den Stier bei den Hörnern zu packen und mich Menschen in der Klemme zuzuwenden, wenn die Reihe erkennbar an mir ist. Herzliche, bedingungslose Zuwendung zu Kindern hat eben kein Verfallsdatum, selbst in Zeiten des Krieges nicht.
Auf der Flucht konnte die Frau auf dem Foto vom Herbst 1940 mich nicht mehr trösten oder wärmen. Auch andere, die mich liebten, waren tot oder unerreichbar. Die mütterliche Großmutter, die erst vor Tagen Mann und Tochter begraben hatte, sah in meiner Rettung ihre letzte unausweichliche Lebensaufgabe. Wie viel sie auf unseren Fluchtwegen schon begriffen hatte von den Ursachen des Grauens, von dem Verbrecherstaat, der nun in tödlichen Stürmen unterging? Wenn ich unsere Familiengeschichte bedenke, hatte sie Gelegenheit, mehr zu erkennen als andere. Aber dann zählte für sie, wie für ein Heer anderer Großmütter nur noch jeder Tag, den wir Kinder überlebten.

Ihre hinterlassenen Notizen sind voll von Erinnerungen an schattenhafte, oft namenlose Menschen, die den Großmüttern und den Müttern halfen: mit einer Fahrgelegenheit, einem warmen Kleidungsstück, einem Becher Milch, einer Ecke zum Schlafen, einem Medikament. Nothilfe für die Kinder, das muss eine Art letzter gemeinsamer Nenner in der zerbrechenden Kriegsgesellschaft gewesen sein; zuerst dort, wo der Naziterror in unserem Namen mordete; und auch danach, als sich unsere Befreiung unter Schrecken und Tod ihren Weg brach. Es ist lebensfremd, anzunehmen, dass alle, die hätten helfen können, auch geholfen haben. Unsere Retterinnen und Retter haben auch Zurückweisung und wiederkehrende Hoffnungslosigkeit ertragen müssen. Aber sie haben uns nicht losgelassen.
Als nicht mehr geschossen wurde, konnte sich niemand von den Retterinnen und Rettern unseren weiteren Lebensweg vorstellen. Wie auch, in den zerbombten Städten und den engen Flüchtlingsquartieren? Zu viele Erwachsene haben es auch mit Schlussstrichen versucht. Nach vorne blicken und die Nazizeit abhaken: „Aus dem Auge, aus dem Sinn!“

Aber unsere Rettung, jede gelungene Rettung eines Kriegskindes auf Erden, macht mehr als genug Sinn. Niemand konnte vor 70 Jahren wissen oder gar zur Bedingung seines Handelns erheben, dass die kleinen Mädchen und Jungen auf den Leiterwagen oder so gar auf den Schultern gehetzter Erwachsener einst ihre Altersjubiläen als Bürger eines wohlhabenden Rechtsstaates würden feiern können; mit neuen Generationen von Nachgeborenen an ihrer Seite. Das ist sehr viel mehr, als unsere Retterinnen und Retter hoffen konnten.

Und das setzt die Regel für unsere Tage: nimm die Kriege auf Erden, wo auch immer sie vom Zaun gebrochen werden und wie sie in den Nachrichten genannt werden: in jedem dieser Kriege kratzen Erwachsene ihre letzten Kräfte und Chancen zusammen, um Kinder der Hölle zu entreißen. Sie dabei nicht im Stich zu lassen, bewahrt unsere Menschlichkeit.

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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