Auschwitz – Putin muss nicht kommen

Das diplomatische Kuddelmuddel um die angekündigte Abwesenheit des russischen Präsidenten Putin bei den Erinnerungsveranstaltungen am 70. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz im polnischen Oberschlesien empört mich nicht. Wer sich in Putins Mokassins zu stellen versucht, wird wahrscheinlich zu dem Urteil kommen, dass Polen für ihn diesen Tagen des heftigen NATO-Russland-Hahnenkampfes ein absolutes No-Go ist – es sei denn, er wolle demonstrativ die Friedensfahne schwingen. Danach ist ihm aber gewiss nicht.

Es kommt sehr viel weniger darauf an, ob Wladimir Putin, Jahrgang 1952, heute nach Auschwitz reist, sondern dass sich die Soldaten der 322. Infanterie-Division der Roten Armee Stalins am 27. Januar 1945 nach Auschwitz durchgekämpft haben. Dort konnten sie gerade noch 7.500 hinfällige Gefangene befreien. Rund 60.000 waren in der Woche zuvor auf Todesmärsche Richtung Westen geschickt worden. Viele der absolut marschunfähig Zurückgelassenen starben den russischen Sanitätern und Ärztinnen noch unter den Händen. Aber unter den geretteten Kindern waren eine Handvoll, die der Menschheit und insbesondere unserem Volk ihr Leben lang aus ihrer Kindheitshölle berichtet haben. Einige tun es immer noch. Die Russen haben es möglich gemacht.

In Auschwitz kamen sie für eine Handvoll Holocaust-Opfer gerade noch rechtzeitig. In Warschau, ein knappes halbes Jahr zuvor, kamen sie den Aufständischen der polnischen Heimatarmee zwei Monate lang nicht zu Hilfe, obwohl sie dazu militärisch imstande gewesen wären. Auch dieses nationale Trauma unserer Nachbarn würde bei einem Besuch Putins in Auschwitz nachklingen.

Für uns Deutsche geht es 70 Jahre danach immer noch um das Andere: wirklich zu begreifen zu versuchen, dass russische Soldaten tatsächlich und in allem Ernst für ein Heer von Gequälten in Lagern, Gefängnissen und unter der alltäglichen Knute des Besatzungsterrors Befreier waren. Dass das eine historische Wahrheit ist und bleibt, die im Umkehrschluss ein letztes Mal das bis ins Mark verbrecherische Wesen des Nazi-Regimes an den Pranger stellt. Des Regimes, dem wir gedient, das wir mit geformt haben. Befreier waren sie, ohne Wenn und Aber, auch wenn ihr Herrscher keinen Tag wartete, eine neue Gewaltherrschaft zu errichten.
Auch kaum vorstellbar, dass Soldaten derselben Division, die Auschwitz befreiten, Wochen, Tage später irrsinnige Verbrechen an deutschen Frauen und Mädchen begangen haben könnten; und wenn nicht sie, dann ihre Genossen. Der Krieg fördert kaum erträgliche Wahrheiten zu Tage.
Zur Versöhnung gehört, dass wir zuerst die Wahrheit der anderen hören und gelten lassen. Dann werden sie heute oder eines Tages bereit sein, auch unsere zu hören.

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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