Das 8. Gebot – reloaded

Im Bedarfsfall würde mir das taufrische Urteil des Europäischen Gerechichtshofes zum sog. „Recht auf Vergessen“ im Internet wohl nichts nützen. Die Sache liegt auf der Hand: alle, die einen der Öffentlichkeit zugewandten Beruf ausüben oder je ausgeübt haben; alle, die viele Male ihre Meinung öffentlich kundgetan und ihrerseits öffentlich kritisiert oder gelobt worden sind – sie alle haben ihre mediale Unschuld unwiederbringlich verloren.
Käme es zum Streit, wird das Recht der Öffentlichkeit auf Information wohl in aller Regel auf den Schild gehoben werden. Da können Suchmaschinen-Links zu noch so absurden, offensichtlich unwahren, von Hass triefenden Behauptungen führen.
In dieser Falle stecken nicht nur ein paar zehntausend Promis aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport. Diese Damen und Herren dürften außerdem mehrheitlich die Macht und die Mittel haben, einen energischen Gegenschlag zu führen bzw. führen zu lassen.
In der Klemme sitzen eher mehre Millionen Normalbürger, vom Hauptschullehrer, über die Stadtverordnete, die Sachbearbeiterin im Finanzamt bis zum Dorfpastor. Es würde mich nicht wundern, wenn diese für Internet-Verleumdung besonders geeignete Zielgruppe nicht weniger als zehn Prozent der Gesamtbevölkerung umfasst.
Auf jeden zu Recht und mit öffentlichem Rückhalt empörten Prominenten werden längst einige hundert Frau und Herr Jedermanns kommen, die einen verzeifelten Kampf gegen die Heckenschützen des elektronischen Zeitalters führen und dabei noch Hohn und Spott auf sich ziehen.
Trotzdem, wenn ich bedenke, für wen das Urteil vor allem zum Rettungsanker werden sollte, fällt mir eine der Szenen im Neuen Testament ein, wo Jesus von Nazareth „harte Kante“ zeigt. Zu seinen von Kindern genervten Jüngern hat er über die Rolle der Kinder in der Welt gesprochen: Sie sind unsere Lehrmeister des Vertrauens. Die berühmte Szene: „Lasst die Kinder zu mir kommen. Scheucht sie nicht weg.“ Und dann segnet er die Kinder.
Dann schließt der Evangelist Markus ein anderes Jesuswort an, gerichtet an Erwachsene, die das Gottvertrauen von Kindern zerstören und sie zum Bösen verführen. Wer so handelt, habe sein Leben vertan. Besser, er bekäme einen Mühlstein um seinen Hals gehängt…
Es ist die Konstellation, die mich bewegt. Bezogen auf das Internet: Erwachsene schaffen eine Wirklichkeit, die den Jungen zweifellos auch Schaden zufügt. Binnen einer knappen Generation, – aus der Perspektive von uns Alten zwischen gestern und heute – ist eine neue unentrinnbare verantwortungsfreie Realität entstanden. Junge Menschen, fast noch Kinder, entdecken, dass sie Wut, Eifersucht, Neid, Enttäuschung, Geltungsbedürfnis, welchen unabweisbaren Gefühlen auch immer, ohne Kontrolle und Selbstkontrolle freien Lauf lassen können. Die Tarnkappe der Sage ist elektronische Realität geworden. Und nur ein mitleidender Gott kennt die Anzahl der Kinder und Heranwachsenden, die sich als Opfer des Internetspotts am Rande des Selbstmordes entlang hangeln.
Die überwiegende Verantwortung trifft wohl nicht jugendliche Täter im engeren Sinn des Wortes.
Noch im Reifeprozess, nutzen sie, was sie vorfinden, einschließlich der lieblosen egoistischen Hemmungslosigkeit, die wir Freiheit im Netz nennen. Wieviel vom Verführer-Vorwurf Jesu uns Erwachsene dabei trifft, ist eine sehr persönliche Gewissensfrage.
Würde mich ein evangelischer Pastor bitten, ihm für ein, zwei Wochen den Konfirmandenunterricht abzunehmen, ich weiß, was ich versuchen würde: das achte Gebot, das vom Lügen, vom „falschen Zeugnis“ über unsere Mitmenschen zusammen mit den Kids auszulegen. Zuerst müssten sie mir eine Menge beibringen und hätten sicher ihren Spaß dabei. Aber dann würden wir uns austauschen über die Versuchungen dieser elektronischen Angriffswaffe, über Opfer- und vielleicht sogar Tätererfahrungen. Wir würden uns vergewissern, dass Gottes „Vergeben und Vergessen“ auch für das Unrecht gilt, dass ich, für immer unentdeckt, mit einer Verleumdungsbotschaft im Netz begangen habe.

Aber unser Gott vergisst tatsächlich auch Dinge, die viel schwerer wiegen, als die Tollpatschigkeiten angetrunkener oder gefühlsverwirrter Teenager; Dinge, die erwachsene Männer und Frauen wirklich von Gott und Mitmenschen trennen können. Vergebung heißt das – und ist das Kerngeschäft, das Jesus mit der Vollmacht seines Gottes betreibt. Sicherer funktioniert keine Löschtaste. Keine Kriminaltechnik holt da die alten Sachen wieder hervor, es sei denn, wir wollten selber davon erzählen, wie großartig und konsequent unser Gott vergessen kann.

 

 

 

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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