Der Richter und wir Dicken

Keine Diskriminierung am Arbeitsplatz wegen Übergewicht! Von diesem Rechtsstreit verstehe ich was. In den 80er Jahren gab es Zeiten, als ich mich namens und im Auftrag meiner Kirche gegen den Hunger in der Welt ins Zeug zu legen hatte – mit bis zu 110 Kg Lebendgewicht. Fürwahr eine Behinderung, wenn auch vielleicht nicht ganz im Sinne des Europäischen Gerichtshofes. Der ließ jetzt stark übergewichtigen Werktätigen Rechtsschutz angedeihen; angestoßen durch den Fall eines Dänen. Der wollte, wie seinerzeit ich selbst, einen besonders den Menschen zugewandten Beruf weiter ausüben – obwohl eine normale Badezimmerwaage in seinem Fall an ihre Grenzen kam.

Die Richter hat nicht interessiert, dass die allermeisten der 1,4 Milliarden Dicken unserer Tage kräftig und ausdauernd zu ihren Erscheinungsbildung beigetragen haben, samt den seelischen und körperlichen Folgen. Für sie galt die objektiv eingetretene Behinderung samt dem Rechtsgrundsatz, dass Behinderung im Erwerbsleben nicht zu Diskriminierung führen darf.

In meinem Arbeitsleben nach Dicken-Diskriminierung zu suchen, wäre Zeitverschwendung. Aber behindert, behindert habe ich mich zuallererst selbst. Schließlich ging es mir ehrlichen Herzens darum, Schülern, Gottesdienstbesuchern, Zeitungslesern, kurzum jedermann in meiner Reichweite die bösen Mechanismen des von Menschen gemachten Hungers zu erklären. Und das nicht als Selbstzweck, sondern in der Absicht, sie als Streiterinnen und Streiter für das Menschenrecht auf Nahrung zu gewinnen.
Ich bin mir sicher, die eine oder andere hat sich nicht wegen, sondern trotz meiner Erscheinung gewinnen lassen. Und wem die ganze, notwendigerweise politische, Richtung nicht passte, dem habe ich frei Haus die perfekte Ausrede geliefert. „Der will uns was vom Menschenrecht auf Nahrung erzählen, und findet nicht einmal bei sich selbst das richtige Maß.“ Es war wahrhaft barmherzig, dass ich manche nahe liegenden Kommentare nicht gehört habe.
Heute falle ich auf der Straße nicht mehr auf. Aber dazu bedurfte es vor allem ernsthafter gesundheitlicher Krisen.

Noch einmal: ich gehörte über Jahrzehnte in die Klasse der privilegierten Dicken: spannender Beruf, geringe soziale Risiken, Ziele, für die es sich zu streiten lohnte. Die Selbst-Behinderung von meinesgleichen fällt ethisch gewiss anders ins Gewicht, als die der benachteiligten und vom Leben bitter enttäuschten Übergewichtigen.
Ihr Bild prägt zusammen mit anderen Indizien der Armut, – Kleidung, Wohnumfeld, bestimmten Behelfserwerbe à la Flaschensammeln – inzwischen geradezu unsere Sehgewohnheiten. Der dicke Arme steht gleich zweifach im Abseits. Kein Amtsgericht wird ihn per Urteil auf die Bewerberliste für Qualitätsjobs zu setzen. Dazu fehlen ihm fast immer Voraussetzungen, die nichts mit seinem Schmerbauch zu tun haben.
Volkswirtschaftlich erfüllt er gerade noch die Funktion, der Junk-Food- und Tütensuppen-Industrie mit seinen HartzIV-Cents den lohnenden Kleinvieh-Mist zu liefern. Und seinen Kids verpasst er gleich die erwünschte zuverlässige Prägung. Ich habe einen höllischen Respekt vor dieser und jener Familie in meinem Gesichtskreis, die wirklich knapp bei Kasse sind und trotzdem ausdauernd und erfolgreich dafür sorgen, dass ihre Kinder am Familientisch lernen, was gesunde und leckere Nahrungsmittel sind.
Inzwischen hat es sich herumgesprochen, dass sich das Proletariat der dicken Armen in den südlichen Regionen der Erde alle Jahre wieder um viele Millionen vermehrt. Dort wiederholt sich, was wir von zu Hause kennen: vor 30 Jahren habe ich, sagen wir in Indien oder Ostafrika, mit schöner Regelmäßigkeit Mit-Dicke angetroffen, die dort das Sagen hatten: in Kirchen, Nichtregierungsorganisationen, unter Künstlern. Allesamt Meinungsführer und Impulsgeber, zusammen mit ihren normalgewichtigen Kumpanen. Sie fielen schon auf, aber sie gehörten dazu. Und um sie herum das arme Volk, in dessen Hütten Schmalhans Küchenmeister war. Die Mehrheit dieser Landarbeiterinnen, Handwerker usw. wurde irgendwie satt. Aber Speck auf den Rippen, so dass es auffiel?
30 Jahre später sehen wir buchstäblich: Stadt macht dick, auch und gerade die Armen. Denn sie nötigt die kleinen Leute in dieselben Billigst-Esskreisläufe wie überall; nicht alle, aber möglichst alle, die ein paar wenige Pesos, Shillings, Rupies in der Tasche haben. Wenigstens bei Mc´s oder sonst wem einmal wählen können! Vielmehr bleibt nicht vom Glück.

So kommt es Ende wohl auf den Blickwinkel an. Diskriminiert werden bei dieser globalen industrialisierten Fettlebe wohl zuerst die wirklich Hungernden und Mangelernährten. Einfach weil die Produktion von Dickmachern verbunden ist mit einer Zweckentfremdung von Nahrungsmitteln sondergleichen.
Und behindern tun wir uns vor allem selbst – freilich mit recht unterschiedlichen Chancen zur Umkehr.

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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