Ein Gesicht, das ratlos macht


  Der Lawine der Kommentare zur Affäre um den SPD-Politiker Sebastian Edathy muss ich keine weitere Schüppe Schnee hinzufügen. Aber ich gestehe, dass mich das markante Gesicht des von mir bisher geschätzten Innenpolitikers an eine lange zurück liegende Ratlosigkeit erinnert.

 Vor reichlich zwanzig Jahren schon zerbrachen wir uns die Köpfe, damals, als die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern erstmals von deutschen Nichtregierungsorganisationen, darunter der Aktion BROT FÜR DIE WELT, öffentlich beim Namen genannt wurde. Damals, als deutsche Asien-Touristen in Thailand, auf den Philippinen und Sri Lanka Verbrechen an kleinen Jungen und Mädchen begingen, für die sie – Tatorte in Deutschland unterstellt – für lange Jahre ins Gefängnis gewandert wären. Der Sextourist war unser Gegner. Das Internet war in unserem Bewusstsein noch kein vorrangiger Tatort. Aber wir wussten bald: neben den wenigen Aufgeflogenen, gab es die unheimliche Dunkelziffer. Soviel hat auch mir der Augenschein an einigen Stränden klar gemacht.

 Wer sind die Täter? Wer macht so was? Und wieso? Aus Deutschland kam, wenn überhaupt irgend etwas, nur ein salbungsvolles Dementi aus dem sorgfältig anonymisierten Pädophilen-Milieu. Sie seien mit ihrem Empfinden und ihrem Verhalten über jeden Verdacht erhaben. Keinem Kind würden sie je ein Unheil zufügen können. Zeitgleich stellten mutige Aufklärer in den Zielländern des Sextourismus in rascher Folge Täter auf frischer Tat. Manche Protokolle gehörten zum Schlimmsten, was ich als Menschenrechtsarbeiter zur Kenntnis nehmen musste. Der Anteil von Landsleuten unter den Tätern war schockierend hoch. Die weitere Strategie und Geschichte des Kampfes gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern speziell im Ferntourismus gehören nicht in diese kurze Anmerkung.

 Mir geht es um meine eigene, ganz persönliche Irritation, dass gerade ein scheinbar gradlinig und unabhängig arbeitender Politiker als Bilderkäufer mindestens die Grenzbereiche sexueller Ausbeutung von Kindern betreten haben soll. Dafür genügt das, was unbestritten ist, unabhängig von weiteren Entscheidungen oder Urteilen.

 Da ist er wieder, der Schock von damals. Die Täter: reichlich Lehrer, Ärzte, Sozialarbeiter, hier ein hoher Beamter, dort ein Journalist, angeblich auf Recherche, Mittelständler. Einen Pfarrer aus Europa hatten wir auch. Kaum Leute mit abschreckender Vorstrafenliste. Dafür viele mit Menschen -bezogenen Berufen.

 Und unser Fazit war ein Fahndungsplakat, das mir unvergesslich geblieben ist. „Gesucht: der Sextourist“, der Entwurf erinnerte an die Fahndungsplakate nach den RAF-Terroristen, die damals allen Bürgern im Gedächtnis klebten. So war das ganze Plakat voll von Bildkästchen mit Zeichnungen so gut wie aller Männertypen, die frei herum laufen. Der potentiell kriminelle Sextourist? Jeder kann es sein, hieß das. Jeder kann sich bei diesem schlimmen Vorhaben sorgfältig tarnen – bis er zur Tat aufbricht. Verlass dich nicht auf Bildung, Status, Religion, Alter, Einkommen. All das schützt vor Kinderschändung nicht. Die Opfer sind darauf angewiesen, dass wir das Unerträgliche zuerst in der Mitte unserer Gesellschaft vermuten. Ich habe das notgedrungen verstanden. Und doch wehre ich mich immer noch gegen diese Tatsache, wie ich gerade wieder merke.

 Damals, als mein Name im kirchlich-beruflichen Umfeld hin und wieder fiel, wenn es um den Kampf gegen Verbrechen an Kindern durch Sextouristen ging, habe ich einige wenige male auch die andere Seite der Not ansatzweise kennengelernt. Menschen, wie ich in der Kirche zu Hause, die nicht zu Tätern werden wollten, obwohl das Risiko der Entdeckung damals noch gering war. Ihre Not war groß. Ob unsere anonymen Kontakte ihnen geholfen haben, habe ich nie erfahren.

 

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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