Flüchtlingswinter

 Fastenaktion 2013

Ein paar Bildschnipsel aus den Fernseh-Spätnachrichten geistern beim Einschlafen noch in meinem Kopf herum. Vielleicht liegt es ja nur daran, dass mir unter der Decke noch nicht richtig warm ist. Dabei ist das nur der Preis für das offene Schlafzimmerfenster, ohne das es bei uns auch im Winter nicht geht.

In dieser Zwischenwelt zwischen Wachzustand und Traum sind die Bilder in Bewegung und Verwandlung. Rückblende: vor einer Stunde etwa habe ich den Bericht aus dem Flüchtlingslager Zaatari in Jordanien gesehen. Geschätzte 90 Sekunden – in alarmierendem Tonfall. Die Lage der nahezu 100.000 Kriegsflüchtlinge aus Syrien sei verheerend; die Helferinnen und Helfer grausam überfordert. Ein deutsches THW-Team, das für Trinkwasser und Klos zu sorgen versucht, funktioniert als medialer Türöffner. Wo niemand auf deutsch in Mikrophone sprechen kann, schaffen es „einfache Katastrophen“ oft nicht in die Nachrichten. Wahrscheinlich, vermute ich, ist auch die Katastrophenhilfe der Diakonie in der Nähe, direkt oder als Rückhalt für lokale Partnerorganisationen.

Meine kalten Füße fokussieren die Erinnerung auf diese kurze Filmszene: ein Vater stopft etwas Plastikmüll in ein Öfchen, das er für sein Zelt organisiert hat. Er zeigt auf seine beiden kleinen Töchter, und er erläutert dem Reporter: „Ich weiß, dass das giftige Dämpfe gibt. Aber ich kann die Kinder nicht erfrieren lassen.“ Die Szene läuft mehrfach in meinem Kopf ab. Ihre nüchterne Dramatik setzt bei mir fest. Ein vorbeifahrender Zug auf der Bahnstrecke hinterm Haus holt mich noch einmal ganz auf die Wach-Seite. Da wird mir klar, dass der Flüchtlingsvater sich zuletzt an unserer Gelben Tonne zu schaffen gemacht hat. Traum-Drehbücher sind unergründlich.

Kleinkinder mit völlig unnötiger lebensbedrohlicher Lungenentzündung. Das ist empörend, ohne Umwege. Das lässt unsereinen schneller Partei ergreifen als die nackten Zahlen. Zahlen wie diese: 300.000 syrische Flüchtlinge im armen Jordanien. So eine Zahl muss erst mal ein spezifisches Gewicht bekommen, um zu wirken. 300.000 Flüchtlinge dort entsprächen vier bis fünf Millionen Flüchtlingen, die Deutschland in irgend einer theoretischen Katastrophensituation aufzunehmen hätte. Wir regen uns auf über weniger als zwei Prozent der Zufluchtsuchenden, die Jordanien, eine geld- und wasserarme Sandbüchse aufnehmen muss – proportional gerechnet.

Und von Syrien aus gesehen? Bisher zählt man jenseits seiner Grenzen in den Nachbarstaaten rund 800.000 Flüchtlinge. Wieder im Größenvergleich der Völker wären das drei bis vier Millionen Deutsche, die jenseits unserer Grenzen Rettung suchen müssten; dazu sechs bis acht Millionen, die innerhalb des Landes um ihr Leben laufen.

Trotzdem: die Vorstellung von der elenden Kälte behält zunächst einmal die Oberhand. Sich zu Tode frieren in einer Weltgegend, die wir ohne viel nachzudenken erst einmal mit viel Sonne in Verbindung bringen. Der Teufel steckt im meteorologischen Detail. Ich erinnere mich an den Horrorwinter, den Katastrophenopfer vor ein paar Jahren in Pakistan durchlitten haben – auch so ein Land mit südlichem Flair. Selbst in afrikanischen Flüchtlingslagern ist es nachts unter den Plastikplanen bitter kalt.

Einmal bei wachen Sinnen, erinnere ich mich an einen seltsamen Satz aus dem Mund des Orientalen Jesus von Nazareth. Er spricht von bösen Tagen in der Zukunft, an denen die Menschen verzweifelt versuchen, einer Katastrophe zu entrinnen. Sein Rat: „Bittet darum, dass eure Flucht nicht im Winter geschieht.“

Wenn solche Gebete im Orient keine Erhörung gefunden haben, ist es an uns, wenigstens Flüchtlingen und Helfern die Mittel in die Hand zu geben, die den brennbaren Plastikmüll überflüssig machen.

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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