Flüchtlingslager: keine Oasen des Friedens! Also auflösen?

Der Nachricht war nur eine kurze Verweildauer in unseren Medien beschieden: Kenias Regierung will nach dem Massenmord somalischer al Shabaab-Terroristen an christlichen Studierenden der Uni Garissa das größte Flüchtlingslager der Welt, Dadaab nahe der Grenze zu Somalia, schließen lassen. Kein Geringerer als die Welt-Flüchtlingsorganisation UNHCR soll den Job binnen drei Monaten erledigen. 350.000, 400.000 Menschen sollen über die somalische Grenze zurück geschoben werden, in einen Landesteil, in dem die UN-Organisation handlungsfähig ist.
Falls der UNHCR nicht spurt, werde Kenias Regierung die Sache selbst in die Hand nehmen.

Ob das Thema ernsthaft auf Wiedervorlage im Terminkalender der internationalen Politik liegt, mag man bezweifeln. All zu sehr scheint die Wutrede des kenianischen Vizepräsidenten der verletzten und rasenden Volksseele geschuldet. All zu wenig hat sie mit logistischen Realitäten zu tun – und mit der Abhängigkeit Kenias von der Kooperation mit westlichen Partnerstaaten.

Beim UNHCR als Lager-Liquidator brauchen wir uns nicht lange aufzuhalten. Abgesehen davon, dass diese humanitäre Weltbehörde sich für das Ansinnen kaum bereit halten würde: die Dreimonatsfrist würde noch nicht einmal ausreichen, um die erforderlichen Finanzen bei mehrheitlich wohl sehr irritierten Geberländern einzusammeln. Also wäre die kenianische Regierung dran.
Da stelle ich mir jetzt mal vor, der Innenminister von Brandenburg bekäme zuständigkeitshalber die Order ein 350.000-Menschen-Lager bei Werder an der Havel aufzulösen und Leute zurück nach Dänemark zu schieben. Trotz all seiner Ressourcen an Menschen und Technik: wenn er es gut mit sich selber meint, wird der Mann augenblicklich zurücktreten.

Große Flüchtlingslager, wie die des UNHCR, mit ihrer Überlebens-Infrastruktur repräsentieren Jahrzehnte lange Erfahrung. Sie sind Auffangbecken, Rettungsnetze am Rande von Kriegen und Bürgerkriegen, manchmal auch von ökologischen Desastern. Hinter der Einförmigkeit der Luftaufnahmen stehen sehr viel Lernbereitschaft, Sachverstand und auch menschliche Zuwendung. In solchen Lagern haben schon Millionen überlebt, weil sie es mussten. Solche Lager sozial verträglich wieder aufzulösen, ist alles andere als einfach. Wo finden die, die gehen sollen, sauberes Wasser, Hilfe bei Krankheit, eine Lehrerin für die Kinder, sogar die eine oder andere Arbeitsmöglichkeit, die ein intaktes Flüchtlingslager bietet?

Aber auch das wissen wir längst: wo Menschenmassen hasserfüllten Konflikten entfliehen, da ziehen die Konfliktparteien mit. Das war z.B. im Kongo so, als dort im Osten riesige Lager aufgebaut werden mussten, um nach 1994 die Hutu-Flüchtlinge aus Ruanda aufzunehmen. Bald war klar, da kamen nicht nur die kleinen Leute angsterfüllt über die Grenze. Angehörige der Volksgruppe, die Grund hatte, die Rache der Sieger des Bürgerkrieges zu fürchten. Mit ihnen kamen auch kriegerische Hutu-Aktivisten. Die wiederum zogen ihre Tutsi-Feinde nach. So machten sie die Flüchtlingslager zu Schauplätzen, zu Tatorten für die Initialzündungen der aufeinander folgenden Kongo-Kriege mit Millionen Opfern und dem Beinamen „Afrikas Erster Weltkrieg“.

Die großen Flüchtlingslager sind keine chemisch reinen Oasen des Friedens. Weder die Flüchtlinge selbst, noch die Betreuenden vor Ort haben das in der Hand. Jeder weiß das. Das Beispiel der Kongo-Lager nach 1994 ist krass, aber nicht untypisch.
Wer sich in die Sandalen der al-Shabaab-Fanatiker hineinstellt, wird verstehen, dass sie banal-normal handeln, wenn sie in der Einöde der Plastikzelte Deckung und Rekruten suchen. Auch UNO/UNHCR haben Sicherheitsfachleute in ihren Diensten. Aber die werden immer wieder den Kürzeren ziehen, unvermeidlich. Und dann passiert das Verbrechen von Garissa. Und damit steht die schockierende Forderung der kenianischen Regierung zu Recht im Raum?

Dann müsste man eigentlich jede Gesellschaft auf Erden ihres Platzes verweisen, so bald aus ihrer Mitte heraus, wo möglich noch unter Missbrauch ihres Namens, ihrer Tradition, ihrer prägenden Religion Mordtaten verübt werden. Wir wären dann ganz gewiss auch betroffen!

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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