Fünfzig Städte lernen trauern

Eigentlich war ich ja alt genug. Viele damals Fünfjährige haben unauslöschliche Erinnerungen an die massiven Bombenangriffe auf deutsche Städte während der letzten Monate des Zweiten Weltkrieges mit auf ihren Lebensweg genommen. Herzbeklemmender Lärm, greller Feuerschein, zusammenstürzende Mauern, Schreie, schreckliche Gerüche.
Etwa 50 größere Städte in Deutschland erinnern sich in diesen Wochen an den jeweils verheerendsten Luftangriff des Krieges – an verschiedenen Tagen und Nächten zwischen Januar und April 1945, vor nun 70 Jahren. Nicht nur in Dresden, wohl in jeder dieser Städte sind Rathäuser, Lokalredaktionen und Bürgerinitiativen an der Arbeit. Sie wollen den einen furchtbaren Tag, die eine furchtbare Nacht den Nachgeborenen vermitteln. Den Tag, die Nacht, als manche Stadt kurz vor Kriegsende noch ihre in Jahrhunderten gewachsene Architektur verlor. Könnte man alle Zerstörungen dieses Frühlings, als Vernichtung vom Himmel fiel, rückgängig machen, es käme ein ganz anderes Erscheinungsbild unserer Stadtkultur zum Vorschein – trotz drei Jahren Bombenkrieg, die schon vorher gegangen waren.
Meine persönliche größte Annäherung an den Bombenkrieg sind die Erzählungen städtischer Verwandter. Und dann nach dem Krieg mein Spielgelände in einer Trümmerwelt im Ruhrgebiet zwischen dem Hochbunker und den Trümmergrundstücken gegenüber. Aber all die Jahre, als die Bomben fielen, war ich sicher untergebracht in einem schlesischen Dorf. Erst als alter Mann wurde ich vor Ort gewahr, dass gleich um die Ecke eines dieser Führerhaupt-Quartiere im Boden verbuddelt war. Aber er ist nie eingezogen. Auch diese Immobilie lieferte also kein Grund für einen Bombenteppich!

Nicht nur in Dresden werden Rathäuser, Bürgerinitiativen und auch Kirchen in den Monaten der Erinnerung ihre liebe Not haben mit den Aufmärschen recht junger und recht ahnungsloser Geschichtsklitterer. Die Neonazis werden unsägliche Rechnungen aufmachen: ein Auschwitz gegen ein Dresden; ein Oradour gegen ein Dessau; ein Warschau gegen ein Berlin; zehntausend russische Dörfer gegen ein Nürnberg. Und am Ende gehen der Führer und die Seinen mit einem ehrenvollen Unentschieden vom Platz; nur halt im Elfmeterschießen unglücklich verloren!

Wir alt gewordenen Kriegskinder dürfen hoffen, dass unsere inzwischen meinungsführenden Kinder und Enkel, in keinem Rechtfertigungszwang mehr gefangen, die Schlussorgie des Bombenkrieges sehen können, als das, was sie war: die mörderische Frucht der bösen Tat, der beispiellos bösen Tat.

Solche nüchterne Ehrlichkeit macht es auch den Menschen in den Ländern der damaligen Anti-Hitler-Koalition leichter, ein weiteres Mal auszusprechen, dass diese letzte Städtevernichtungs-Mission keinen rechtfertigenden kriegerischen Sinn mehr besaß. Viele alte Piloten haben darüber viele Male mit ihren Gewissen und ihrem Gott gesprochen.

Die Buchhalter des Krieges verstehen es als ihre Pflicht, die Toten zu zählen. „Body Count – Leichenzählung“ heißt das in der amerikanischen Militärsprache unverblümt. Meist gibt es dann zwei Zahlen, die eine für´s Volk und die andere für Strategen und Regierende. Die Totenzahlen des Städtekrieges im Frühjahr 1945 sind heute nur ein paar Klicks vom Bürger entfernt. Und auch der Streit um sie. Dresden ist auch in diesem Fall das Muster. Aber ob Hunderttausend oder Dreißigtausend, in der Addition lagen auf den Verbrennungsrosten und liegen in Massengräbern Deutschland-weit so viele Bombenopfer, dass wir die Namen Hiroshima und Nagasaki leicht auf Distanz halten können. So viele Tote hatten wir auch! Und es ist ja wohl egal, woran ein Mensch krepiert!
Das ist es natürlich nicht. Im Frühjahr 1945 fiel das Grauen auf 50 Städte in Deutschland. Aber unsere Befreiung mit den tödlichen Mitteln des Krieges gelang so rasch, dass die gegen Nazideutschland gebaute Atombombe die beiden Städte auf der andren Seite der Erde traf. Wie die Menschheit heute weiß, dauert das Sterben an einer Atombombe ein halbes Jahrhundert und länger. Und sie bleibt weiter gut für den Suizid des Homo sapiens.

Brandenburg erinnern, oder Magdeburg, oder Münster, oder Würzburg, das ist gewiss lokale Bürgerpflicht, die ihre Früchte trägt. Aber wir dürfen uns nicht bannen lassen von den dunkelsten Stunden unserer Heimatstadt – und anschließend rühmen, wie atemberaubend dieser Phönix aus seiner Asche auferstanden ist. Bombenkrieg ist auch, wenn irgendwo auf den Kriegsschauplätzen unserer Tage ein Drohnengeschoss in eine Straße haut und Kinderleichen hinterlässt, wie sie viele steinalte Menschen bei uns immer noch nicht aus dem Kopf kriegen. Wer das als Kollateralschaden abbucht, muss Trauern erst noch lernen.

20.01.15

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
Dieser Beitrag wurde unter Friedensverantwortung abgelegt und mit , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.