Horror-WM in Damatura

Eigentlich hatte ich mich vor dem ersten Anpfiff schon von der 20. Fußball-WM abgemeldet. Alles, was erst nach 21 Uhr los geht, kollidiert einfach mit meinem Zug ins Bett: Altersschicksal. Außerdem geht das Gehabe des selbsternannten FIFA-Königs vom Genfer See und seiner mitunter empfänglichen Kumpane wirklich auf keine Kuhhaut mehr. Dieser Fisch stinkt vom Kopf her.

Und nun habe ich doch mehrere Abende hintereinander zugeschaut! Die Spiele erwiesen sich als unerwartete Muntermacher. Die Kicker trauen sich mehr, als zu erwarten war. Und meine Frau erklärt einer Freundin am Telefon, dass man die Männer lassen muss, wenn sie fußball-bedingte Verhaltensauffälligkeiten zeigen.

Umso scheußlicher die Nachricht, die ich mit ein paar Tagen Verspätung aus der Zeitung fische. Das Eröffnungsspiel zwischen Brasilien und Mexiko hat in Nord-Nigeria, in Damaturu, vielen Fernsehzuschauern Tod und Elend gebracht. Die terroristische Sekte Boko Haram hat ein Public Viewing als Bombenziel ausgewählt und blindwütig gemordet. Boko Haram, wer sonst, denken die Leute. Nicht zum ersten mal morden sie Fußballfans, denn die Verbindung von Sportvergnügen und Gastronomie ist genau die Lebensart, gegen die sich der mörderische Fanatismus der „Boys“, wie sie in Nigeria angsterfüllt genannt werden, richtet. Fußball, das ist Nigeria. Das sind die „Super-Adler“ im Nationaltrikot – an Stelle der Religionen, Sprachen und Völker, die Afrikas menschenreichsten Staat in ein Gewirr von Konfliktparteien zerlegen. Dies Nigeria der vereinten Fans darf aus der Sicht der religiösen Fanatiker nicht sein.

Wie sind sie im Quartier der nigerianischen Nationalmannschaft mit der Mordnachricht umgegangen? Dem Trainer kann gegenüber den Medien eigentlich kein Wort über die Lippen gekommen sein. Es wäre augenblicklich um die Welt gegangen. Und der Mann hätte ab sofort als Todeskandidat zu gelten. Das erste Spiel der Nigerianer gegen den Iran war unansehnlich, nicht nur wegen des Null-Null. Aber mir ist kein Reporter-Kommentar erinnerlich, der sich auf die naheliegende seelische Verfassung der „Super-Adler“ bezogen hätte.
Und weil die Gedanken nun einmal losgelassen sind, fallen mir weitere politische Fußball-Morde zu Zeiten dieser bisher überraschend munteren WM ein: in der Zentralafrikanischen Republik hat eine „christliche“ Miliz bei einem Fußballspiel gemordet. Die Rache hat dann die andere, die „muslimische“ Seite übernommen.

Wie passt das zusammen? Passt es überhaupt irgendwie zusammen? Die harmlosen, niemandem Schaden zufügenden Fragen nach dem Zustand eines prominenten deutschen Oberschenkels vor dem nächsten Spiel, diesmal gegen eine afrikanische Mannschaft aus der weiteren Nachbarschaft Nigerias. Diese von Sportreportern liebevoll gepäppelte Besorgnis wegen einer rätselvollen Schwäche unserer Jungs speziell im zweiten Spiel eines Turniers. Harmlos wie ein kleiner Babypups ist das, verglichen mit allen wirklichen Sorgen, die das Leben aufbürden kann!

Daneben die blutbeschmierte Tatsache, dass diese bisher so nette WM Mörder aufs Feld schickt, – auf die schon lange vor und auch weiter nach der WM bestehenden Schlachtfelder unserer Bürger-Kriege. Muss ich nicht doch den Fernseher ausschalten und die Zeit verwenden auf nachdenken, verstehen und handeln – wie man es in der Menschenrechtsarbeit lernt? Sind globale Events wie die FIFA-WM akzeptabel, wenn wir mit ihrer medialen Allgegenwart beinahe zwangsläufig Mordgesellen aktivieren, diesmal an afrikanischen Tatorten, in vier Jahren, in acht Jahren sonst wo?

Ich muss noch sortieren. Wie vielen kleinen Leuten aus den von Massenarmut gekennzeichneten Teilnehmerländern tut es gut, wenn ihre Teams Erfolge gegen Länder aus der wirtschaftlichen und politischen Champions-League erzielen können? Wohl wissend, dass auch ihre eigenen Kicker sich keine Sorgen um die Arztrechnung geschweige denn das Tägliche Brot machen müssen? Zählt so ein seelischer Vitaminstoß wirklich? So, wie das „Wunder von Bern“ 1954 eine Starthilfe für unsere im Nazi-Ungeist gefangenen Seelen gewesen sein soll? Einmal gegen Deutschland siegen? Und gegen Ende des 21. Jahrhunderts werden sie noch davon reden? Wiegt das gegen die Public Viewing-Morde?

Heute Abend nach dem Spiel weiß ich vielleicht mehr. Und die anderen müssen ja nicht unbedingt heute abend schon gewinnen.

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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