Jahreszahlen: 1914 – 1939 – 1989 2014

 

Schön, dass ich noch Zeitgenosse des Jahres 2014 sein darf. Es dürfte aber auch das letzte Jahr sein, das mit seinen geballten Jahrestagen derart zur Auseinandersetzung mit unserer jüngeren Geschichte einlädt und gleichzeitig in der Zeitspanne liegt, die mir die Lebenserwartungsstatistik zubilligt – völlig unverbindlich, versteht sich.

 Unser Leben währt 70 Jahre, selten 80, resümiert der Dichter des 90. Psalms. Das hat sich bis heute für Männer in Deutschland kaum geändert. Aber wenn man die Arme der Erinnerung und der Phantasie ausbreitet, erfasst so ein statistisches Durchschnittsleben auf einmal mehr als zwei Jahrhunderte. Ich habe noch bei meiner Urgroßmutter auf dem Schoß gesessen, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts geboren sein muss. Und eines Tages werden sich Männer, meine Enkel, gegen Ende dieses Jahrhunderts an mich erinnern, so oder so. In dieser Zeitspanne war deutsche Geschichte zugleich persönliche Lebensgeschichte für die Menschen, mit denen ich verbunden bin.

 Als der 1. Weltkrieg 1914 vom Zaun gebrochen wurde, war mein Vater ein vierjähriges Kind. Meine Mutter wurde im zweiten Kriegsjahr geboren. Von ihrem Vater, meinem Großvater, gibt es noch ein würdiges und zugleich befremdendes Foto: in Gala-Uniform als Feldgeistlicher der deutschen Armee.

 Und weil jemand einige Predigten von ihm aus der Kriegszeit aufgeschrieben hat, weiß ich, dass er kein Großdeutscher war, aber auch nicht klarsichtiger als unsere Hohenzollernkirche in jener Zeit. Mein Trost: in den Hitler-Jahren hat er nach allem, was ich wissen kann, die richtige Seite gewählt. So kann ich ohne innere Not die alten Schwarz-Weiß-Fotos anschauen, auf denen ich dem alten Mann halbnackt um die Füße springe – zu Zeiten von Stalingrad muss das gewesen sein.

 Als Polen überfallen wurde, am 1. September 1939, war ich ein ungeborenes Kind. Was die mit mir Schwangere an diesem Tag gedacht und gefühlt hat, hat sie mir nicht sagen können. Sie hat den Krieg nicht überlebt. Die Todesrate unter den Männern meiner Familie liegt wohl über dem deutschen Durchschnitt. Aber die Gräber, die meinen Großmüttern das Herz abgedrückt haben, liegen in Ländern, deren Menschen entsetzlich unter den deutschen Kriegsverbrechen gelitten haben. Von den Uniformträgern hat nur mein Vater überlebt. Aber in seiner Seele ist er nie mehr ein Mensch des Friedens geworden. Und mein Schwiegervater, 1945 schon ein Mann an der Grenze zum Alter, gehört als Volkssturm-Toter – zusammen mit einem Teenager, der der kleine Bruder meiner zweiten Mutter war – zu denen, die der Verbrecherstaat noch rasend mit in seinem Untergang gerissen hat.

 Eine Horrorbilanz, wenn ich die Zweige meiner Familie zusammen denke. Aber seit meinem ersten Schultag ist dann kein Krieg mehr in mein Leben eingebrochen. Nahezu 70 Jahre lang nicht. Auf der Zeittafel unserer Geschichte eine Periode von einmaliger Dauer. Aber auch die Risiken, mit denen wir gelebt haben und noch leben, waren einmalig. Da waren die Tage nuklearer Kriegsgefahr, die jeder Zeitungsleser angsterfüllt mitbekam; und einige, die den Völkern erst Jahrzehnte später offen gelegt worden sind. Der Dritte Weltkrieg, der letzte, durch Computer-Macken, falsche Analysen: das wäre ja wirklich der denkbar peinlichste Abgang für die Machteliten des 20. Jahrhunderts gewesen.

 Der Mauerfall 1989 steht symbolisch für die Aufhebung jener Grenze, die eine ganze Generation lang die bedrohlichste auf Erden war, für die Deutschen zu beiden Seiten und für die Völkerwelt. Dass die Nachbarn uns dann die Vereinigung erlaubt haben, war wohl so etwas wie ein zähneknirschender Vertrauensvorschuss, 50 Jahre nach 1939.

 25 Jahre nach dem Mauerfall merke ich, wie alltäglich mir meine Adresse im Umland von Magdeburg geworden ist. Zugezogen zu einer Zeit, als man bei Tagungen noch als „Vertreter aus den neuen Bundesländern“ begrüßt wurde und den Tagungsbeitrag erlassen bekam – witzigerweise mit lupenreiner Wessi-Biografie. Inzwischen wohne ich in Sachsen-Anhalt, wie unsere Kinder in NRW, Bayern, Brandenburg oder Schleswig-Holstein. Mich interessieren Bundesbahnfahrpläne, aber kaum noch regionale Befindlichkeiten.

 Was mich interessiert auf meine alten Tage, mit den Jahreszahlen 1914, 1939 und 1989 als Rippenstößen, ist hauptsächlich die Frage, ob von meinem Land endlich Frieden ausgeht. Böse Tatsachen nähren bittere Zweifel daran. Also sind meine, unsere Bürgerpflichten noch nicht getan.

 

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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