Mein erstes Vorurteil

Fastenaktion 2013, 7. März

Ich bin mir sicher: das war das erste politisch-soziale Vorurteil, das ich als Kind aufgesogen habe. Wir waren zwar selber unwillkommene Flüchtlinge in dem gesegneten Bauernland unter westfälischen Eichen. Aber es gab Leute, die rangierten noch weit unter uns: „Sperrt die Hühner ein. Macht den Karnickelstall dicht. Holt die Wäsche von der Leine, die Zigeuner kommen!“

Damals muss ich es gerade in die zweite Volksschulklasse geschafft haben. Wir lebten in einer Bauernschaft im Umland von Münster. Ging von der knappen Ausrüstung der Haushalte etwas kaputt, dann war reparieren angezeigt, wieder in Stand setzen, nicht „entsorgen“ und Neuanschaffung. Die ansässigen Handwerker hatten gut damit zu tun. In der überlieferten dörflichen Arbeitsteilung gab es aber auch handwerkliche Dienstleistungen, die den Zigeunern vorbehalten waren. Alles was mit den unentbehrlichen Schneidgeräten zu tun hatte- im Zeitalter vor den schnibbelnden und schnitzelnden Elektrogeräten. Jede Hausfrau brauchte eine Schublade voll intakter, scharfer, schartenfreier Messer und Scheren, die Beile nicht zu vergessen.

Ich erinnere mich gut, dass bei uns immer schon einiges bereit lag, wenn die Scheren schleifenden Zigeuner wieder erwartet wurden. Klipp und klar: für mich waren sie die „Zigeuner“, bezeichnet mit der deutschen Variante des alten, in vielen europäischen Sprachen benutzten Herkunftsbegriffes. Die Selbstbezeichnung dieser Dienstleister als Sinti oder Roma, heute üblich und korrekt, war niemandem im Dorf geläufig.

Diese Unkenntnis ist wohl unbedeutend gegenüber der anderen: als Kind hatte ich nicht die geringste Ahnung von dem Völkermord, den Nazideutschland an den Sinti und Roma seines Machtbereiches begangen hat. In meiner politischen Erziehung kontrastriert das heftig mit der Unterrichtung über den Holocaust an den Juden. Dass dieses Verbrechen unauslöschlich sei und meinen ganzen Lebensweg irgendwie begleiten würde, wurde mir im Elternhaus nachdrücklich vermittelt. Aber unsere Messerschärfer mit dem Pferdewagen: Überlebende fast vollständig ausgelöschter Großfamilien? Vieles spricht ja dafür, dass es so gewesen sein muss. Doch ich habe nichts davon geahnt. Und Erwachsene, die vielleicht nicht nur etwas geahnt haben, haben geschwiegen.

Im übrigen, dass ein mobiler Handwerker auf regelmäßiger Tour sich nicht an Kleinvieh und Gärten seiner Kundschaft vergreift, ist doch eigentlich nur logisch. Die einzigen Hühner, die im Dorf spektakulär zu Tode kamen, fraß der Hund des evangelischen Pfarrers im Hühnerhof der katholischen Pfarrei. Die beiden Männer begossen den Vorfall mit einem Gläschen. Dennoch „Die Zigeuner kommen!“ lautete mein erstes Vorurteil, das ich den Erwachsenen verdankte!

Länger als ein halbes Jahrhundert hat es gedauert, bis Deutschland in Berlin einen nationalen Ort der Erinnerung für das hingemordete Volk der Sinti und Roma gestaltet hat. Die Zahl zigeunerfeindlicher Übergriffe und Gehässigkeiten, auch von Behördenseite, ist in der Bundesrepublik immer skandalös hoch geblieben. Andererseits sind die Repräsentanten der deutschen Sinti und Roma seit vielen Jahren selbstverständlich dabei, wenn unser Staat vergangener Verbrechen gedenkt oder sein Verantwortungsbewusstsein für die Bürgerrechte von Minderheiten betonen möchte.

Anders als Feld-Wald-und-Wiesen-Deutsche sind deutsche Sinti und Roma freilich über unsere Grenzen hinweg mit vielen nicht deutschen Menschen eng verbunden. Nicht durch Religion und Leidensgeschichte, wie die deutschen Juden. Sondern durch ihre Kultur, ihre Sprachen – und ihre Leidensgeschichte. Diese Lehrerinnen, Facharbeiter, Familienmütter, Ingenieure, Verkäuferinnen, Kaufleute, Jugendlichen haben jetzt beim Bundespräsidenten Alarm geschlagen. Sie sehen akute Gefahr, dass im bevorstehenden Bundestagswahlkampf ein fremdenfeindlicher Giftcocktail angerührt werden könnte: Vertraglich garantierte Reisefreiheit für EU-BürgerInnen aus Rumänien und Bulgarien heißt selbstverständlich auch Reisefreiheit für rumänische und bulgarische Sinti und Roma.

Man greift kaum daneben, wenn man sie in der Mehrheit „Europas Ärmste der Armen“ nennt. Arm an Rechten und Rechtssicherheit; arm an Besitz und Verdienstmöglichkeiten. Es braucht nur ein paar wenige Interessenskonflikte zwischen legal eingereisten rumänischen Roma und deutschen Ämtern, und die zigeunerfeindlichen Schlagworte der Nazis fänden sich, zeitgemäß verändert, im Herbst 2013 auf Titelseiten und in Nachrichtensendungen wieder. Böser Schaden für Einzelne und das Gemeinwohl ist absehbar. Politiker, die so etwas bei der Stimmungsmache riskieren, gibt es leider reichlich – und beileibe nicht nur in ein oder zwei Parteien.

Ich will hoffen, dass sich das Bundespräsidialamt für einen Wahlkampf-Codex einsetzt, der Diffamierung von Minderheiten ächtet. Aber das wird nicht reichen. Wir BürgerInnen haben viele friedfertige Mittel und Wege, diejenigen zurecht zu weisen, die es ein weiteres mal mit dem Sündenbock-Trick versuchen wollen.

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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