Münzen im Hut des Bettlers

 

Was ist da los? Schräg gegenüber in dem etwas angeschlagenen Plattenbau hätte längst die Post abgehen müssen. Heute ist schon der Siebte. Und seit dem 1. Januar bekommen die Leute dort im Unterschied zu mir mehr Geld. Nicht alle, aber die meisten, von der inzwischen ziemlich ausgedünnten Bewohnerschaft. Die sind auf Hartz IV, wie man hört. Zwei Mütter, ein junger Mann mit Mofa, eine meistens gut gelaunte Oma und ein Alter. Letzteren habe ich schon mehrfach an der Supermarktkasse getroffen. Da wartete er, bis die vielbeschäftigte Verkäuferin ihm die gesammelten Pfandflaschen abnahm.

 

Wenn das wirklich stimmt mit dem Hartz IV, dann haben alle fünf Erwachsenen jetzt monatlich 9, in Worten „neun“ € mehr in der Tasche. Und die Blonde von den beiden Müttern kriegt noch mal 11 Euro drauf. Für das Kinderwagenkind fünf und für das Schulkind sechs. Die Schwarzhaarige kriegt nur die fünf Kröten für Kleinkinder, Pech! Trotzdem, satte 61.- € sind am Januar 2014 zusätzlich in dieses Haus geflossen. Und an jedem Ersten des Jahres werden weitere 61.- € fließen. Da hätten ja wohl ein paar Kästen Bier mit Erdnüssen und Salzstangen drin sein müssen, als Dankeschön-Party für die Nachbarschaft. Auch ein paar Hartz IV-Raketen zur Feier des Wohlstands im neuen Jahr wären eine Superidee gewesen. Das hätte allerseits für gute Laune gesorgt. Schließlich zahlen wir ja die Steuern, die derartige Einkommenszuwächse erst ermöglichen.

 

Leute, die sich solchen blühenden Blödsinn zusammen fantasieren können, muss es unter uns eine ganze Menge geben. Anders ist mir nicht erklärlich, dass die Abspeisung unserer armen Nachbarinnen und Nachbarn und ihrer Kinder mit ein paar Münzen mehr pro Monat insgesamt so geräuschlos vonstatten gegangen ist.

 

Niemand, der zu einem netten Abend aufbricht, wird so tollpatschig sein, sich dafür nur die neun Euro einzustecken, die ein Hartzer jetzt mehr bekommt. Neun Euro, das reicht für Kellner-Trinkgeld, Klofrau und das „Stimmt so“ zum Taxifahrer. Selbst eine Schachtel Zigaretten ist dann nicht mehr drin. Für alles andere gibt es die Scheine.

 

Neun Euro, für meinen armen Nachbarn sind das knapp drei Prozent mehr. Drei Prozent mehr bei mir, damit lässt sich schon was anfangen! Nach oben sind, was die Kaufkraft von drei Prozent mehr angeht, alle Möglichkeiten offen. Etwas Ungerechteres, als drei Prozent für alle kann es kaum geben.

 

Irrwitzig wird es bei den drei Prozent für die Kleinsten; von 224 € rauf auf 229 €. Klar: drei Prozent sind das nicht, eher zwei und ein Fliegenschiss. Aber darauf kommt es da auch nicht mehr an. Irre ist die sozialpolitische Erkenntnis, dass nix billiger ist als Kinder. Leben tun die nämlich von Luft und ganz viel Liebe. Sie essen nicht, sie wachsen nicht, sie haben keine Wünsche. Ein „Armutsrisiko“ sind sie nur für Besserverdienende. Bei den Schulkindern kommt außerdem fürsorglich ein Euro mehr in die Zulage, sechs statt fünf, von 255 auf 261, obwohl Schule in Deutschland ja nichts kostet, wenn man mal von dem Drumherum absieht. Aber man weiß ja, ein paar Jahre lang kann der Nachwuchs futtern wie die Scheunendrescher. Und die Pommes werden auch immer teurer. Doch der Staat, wir alle also, sorgt ja vor.

 

Wie weit müssen unsere Lebenserfahrungen eigentlich auseinanderklaffen – von der Hartz IV-Mutter über den Oberstudienrat i.R. bis zum Vermögensmillionär – damit bei den Berechnungen dessen, was die Erziehung von Kindern in Deutschland tatsächlich kostet, diese verächtlichen und lebensfremden Zahlen herauskommen können? Diese eine Euro-Münze monatlich mehr für Schulkinder, gut drei Cent pro Tag, für mich wird sie zu einem hässlichen Symbol der tatsächlichen Gleichgültigkeit denen gegenüber, von denen wir doch so viel erwarten: nicht nur persönliches Großelternglück, sondern gefälligst Zuverlässigkeit bei der Einhaltung eines gesellschaftlichen Generationenvertrages, der immer mehr einem hohlen Zahn gleicht. Ja, einen sehr nennenswerten Teil unserer Versorger von morgen schicken wir erst mal durch ein knallhartes Armutstraining. Es setzt sich über die Kinderjahre zusammen aus ungezählten schmerzhaften Nadelstichen.

 

Deshalb gelten meine Neujahrsgrüße 2014 parteiübergreifend den für Armutsbekämpfung politisch zuständigen Frauen und Männern. Sie müssen mit allen Bürgerinnen und Bürgern guten Willens schleunigst die ganz große Koalition bilden. Die Koalition, die sich mit massenhafter Armut in unserem reichen Land nicht abfindet – und sich nicht abfindet mit ein paar hingeworfenen Münzen im Hut des Bettlers.

 

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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