Näherinnen im Feuer – Erinnerungen und Vorsätze eines Verbrauchers

Am Haken für Einkaufsutensilien in unserer Küche hängt noch eine: eine Original-Jutetasche aus Bangladesch, „Jute statt Plastik“; ein Relikt aus den frühen Tagen des Kampfes gegen Müllberge und Rohstoffverschwendung. Die Tasche war ein Kick, eine Aufwachhilfe für Zehntausende, mindestens. Lasst uns Dinge tun, die hüben und drüben Sinn machen; so z.B. Arbeit für diskriminierte Frauen im fernen Bangladesch und Entlastung für hiesige Mülldeponien.

Ich hatte sogar Gelegenheit, einige der Taschennäherinnen im Umland von Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch zu besuchen. Sicher, Dhaka war damals schon eine Großstadt, aber nicht erdrückend, wenn man gerade den Katzensprung aus dem benachbarten indischen Kalkutta gemacht hatte. Von den fast 5.000 Textilfabriken, die längst das Umland von Dhaka gefressen haben, damals keine Spur! Jutetaschen und Jute-Kunstgewerbe statt der Säcke und Teppichunterböden aus Jute, die nicht mehr aktuell waren. Eine reichlich naives Wirtschaftsmodell, hätte uns Dritte-Welt-Händlern der ersten Stunde damals schon auffallen müssen.

Lang, lang ist´s her, will einem alt Gewordenen scheinen, heute, angesichts der wiederholten Meldungen von Brandkatastrophen in diesen Menschenkäfigen zur Kleiderproduktion. Aber das ist ja nur die Perspektivverschiebung bei Leuten, deren Lebensuhr sich in den letzten Umdrehungen befindet. Zwischen Jutetaschen und Nähbunkern liegen keine vierzig Jahre. Damals, als ich mit den ersten bescheidenen und ach so fortschrittlichen Jutetaschen einkaufen ging, gab es in meiner Heimatstadt im Ruhrgebiet noch mehrere produzierende Textilbetriebe. Gewiss, die Aussichten waren schon düster. Aber dass Bangladesch zu meinen Lebzeiten, zusammen mit einer Handvoll anderer asiatischer und mittelamerikanischer Länder, meinen Kleiderschrank füllen würde, das war schlecht vorstellbar.

Wer in Deutschland heute gut siebzig ist, hat ja mit dem Zeug am Körper eher ganz andere Erfahrungen gemacht. Als Nachkriegskinder waren wir auf das Improvisationsgeschick von Müttern und Omas angewiesen. „Auftragen“ gab´s für mich nicht. Ich war der Älteste. Aber Umgearbeitetes war gang und gäbe. Ich erinnere mich z.B. an eine dunkelbraune Winterhose, die bei mir hoch im Kurs stand. Sie hatte eine Vergangenheit als Decke. Meine Schwiegermutter gehörte, wie ich Jahrzehnte später erfuhr, zu den vielen, die für Geld oder Tauschwaren Schneiderinnendienste leisteten. Meine Mutter vergab im Dorf manchen einschlägigen Auftrag. Noch mein Konfirmationsanzug kam vom Dorfschneider. Nicht weil wir uns was Besseres dünkten, sondern weil das die preiswerteste Lösung war.

Überhaupt „Klamotten“! Der wegwerfend-lässige Tonfall, mit dem das Wort heute ausgespuckt wird, war in meinen Jungenjahren völlig fehl am Platze. Zu den Ordnungsdiensten, die ich pingelig zu erledigen hatte, gehörte das Führen der Kleiderliste. Sie war nicht lang, obwohl jede Socke, jede Unterhose, jeder Schlips erfasst war. Die Erzieher im dem Heim, wo ich damals lebte, zählten regelmäßig nach. Ein abgängiges Oberhemd war schon eine größere Affäre. Was Wunder, bei einem Gesamtbestand von vielleicht drei Stück!

Und wenn wirklich mal ein Hemdkragen unwiderruflich durchgescheuert war, dann hieß die Endstation „Klüngelskerl“. Einer Textilverwertungsbranche heutigen Ausmaßes hätte etwa bis zu Zeiten der Wiedereinigung die Rohstoffbasis gefehlt. Du musst erst mal Weltmeister im Klamottenkonsum werden, um dich danach am Problem fairer Reststoffverwertung abarbeiten zu dürfen.

Den Zug Richtung „Schöne neue Klamottenwelt“ habe ich persönlich irgendwie verpasst. Wann ist dieser Zug überhaupt abgefahren? Ohne die Wechselwirkung zwischen zunehmender Kaufkraft in unseren Portemonnaies und den Kampfpreisen auf der Basis von Dritte-Welt-Hungerlöhnen kann sich der Zug kaum in Bewegung gesetzt haben. Ich habe nicht vergessen, wie ich es Anfang der achtziger Jahre in Sri Lanka einmal wissen wollte. Ganz unverbindlich habe ich mich damals in Colombo nach dem Rechtsrahmen für ein Investment im Textilsektor erkundigt. Die Stundenlöhne sollten nicht unter 12 Pfennigen liegen, bitte sehr. Aber dafür würde man mir auch allen Ärger mit Gewerkschaften vom Halse halten. Inzwischen ist die Karawane längst weiter gezogen. Sri Lanka ist out, wenn es denn in Sachen Textil-Weltmarkt je „in“ war.

Bangladesch ist „in“. Was Wunder? Seit den Tagen der Jutetaschen-Euphorie hat sich das Volk im engen Delta der indischen Riesenströme mehr als verdoppelt. Kein Flächenstaat auf Erden ist dichter besiedelt. Ein Gutteil des Landes steht Jahr für Jahr zur Taifun-Saison auf der Kippe, in Zeiten des Klimawandels mehr denn je.Wenn ich da wenigstens einige Millionen junge Menschen, genauer gesagt Frauen und Mädchen, in vielgeschossige Nähkästen stecken kann, was soll ich dann tun?

Bin ich Regierender, dann nehme ich mir ein paar Blatt geduldiges Gesetzespapier und schreibe sie voll mit Bestimmungen für meine neue Textilindustrie. Ich achte darauf, dass einheimische Investoren, ihre Weltmarktkunden von C&A über KiK bis Walmart, die Internationale Arbeitsorganisation ILO und die Gewerkschaften halbwegs zufrieden sind. Habe ich kluge Berater, dann finde ich sogar ein paar gute Worte für die einschlägigen Nichtregierungsorganisationen, wenn ich sie nicht einfach verbieten kann.

Was dabei herauskommt, war nach der Brandkatastrophe bei Tazreen Fashions, Dhaka, Ende November 2012 zu hören. Das Unternehmen durfte verlauten, man habe sich im Hause an EU-Standards gehalten. Wenn es denn in Sachen Arbeitssicherheit EU-Standard ist, dass tausend Leute über drei Treppen alle zu dem einzigen Ausgang stürzen müssen, der zur Feuerfalle geworden ist.

Aber wenige Wochen nach dem Großfeuer in einer Weltmarkt-Textilfabrik in Pakistan und einen einzigen Tag vor der nächsten Brandmeldung aus Dhaka ist es leider müßig, einem einzigen Management am Zeuge zu flicken – auch wenn die unabhängige Ermittlungsarbeit von Organisationen wie der „Kampagne für Saubere Kleidung“ in jedem Einzelfall unentbehrlich ist. Näherinnen im Feuer: darüber können weder Branche noch Verbraucher zum Tagesgeschäft übergehen.

Mir als Senior-Verbraucher, mit Klamottenwerbung zugeschüttet, welche Rolle kommt mir zu? Es reicht nicht, wenn ich hin und wieder eine Petition unterschreibe. Ich sollte schon die Nerven haben, die lieben Menschen der Kinder- und Enkelgeneration bei Gelegenheit zu fragen, wieviel Klamotten es denn sein müssen. Die, die ich kenne, können sich ein Gedränge im Kleiderschrank angesichts ihrer Durchschnittseinkommen nur leisten, wenn Lohn und Arbeitssicherheit der Schneiderinnen zum Himmel schreien. Umgekehrt: noch jeder junge Mensch, der mich begeistert, tut das nicht wegen dem textilen Outfit, sondern wegen der Strahlkraft des Charakters. Und ich vermute, ihren Altersgenossen des jeweils anderen Geschlechtes geht es ähnlich.

Die soziale Wertschöpfung einer menschenwürdigen Kleiderwelt mit dem Leitwort „Weniger ist mehr“ beginnt bei den Rohstoffen. Baumwolle aus öko-fairer Produktion ist ein Segen für Bauernfamilien im Sahel oder auch in der Türkei. Aber auch meine Haut ist happy, wenn sie eines meiner fünf Bio-Baumwoll-Oberhemden zu spüren bekommt. Irgendwann brauche ich jetzt Ersatz. Aber fünf reichen doch wohl, oder? Bio-faire Kleidung, ein Markt, dessen Zukunft noch kaum begonnen hat. Es wird nicht gehen ohne eine recht persönliche Antwort auf die Fragen „Wieviel brauche ich?“ und die andere Frage „Könnte ich meiner Schneiderin in die Augen sehen, wenn sie bei nachher mir klingeln würde?“ Das tat hin und wieder die Schneiderin aus der Nachbarschaft bei uns im Dorf. Damals war beileibe nicht alles besser. Aber manches passt doch ganz gut in die Agenda des 21. Jahrhunderts.

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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