Realismus des Fischers

Fastenaktion 2013, 3. März

Den Rentenbescheid in der Tasche habe ich der Stadt meines Berufslebens vor mehr als zehn Jahren Lebewohl gesagt. So war es Zufall, dass ich von einem Fest erfahren habe, das heute nur eine Straßenecke von meinem früheren Arbeitsplatz entfernt stattfindet. Der evangelische Pfarrer, der dort mein ganzes Berufsleben lang amtierte, kann heute als Ruheständler sein Goldenes Ordinationsjubiläum feiern.

Wir Evangelischen weihen ja keine Priester, denen anschließend für den Rest ihres Erdenweges einige angeblich gottgewollte Qualitäten und die verbindliche zölibatäre Lebensform eigen sind. Wir stellen „Normalos“, Frauen und Männer, in den Dienst unserer Kirche. Wir wünschen uns als Regelfall im Pfarrhaus eine Familie, wohl wissend, dass diese Ehen und Familien mindestens so krisenanfällig sind wie die im ganzen Kirchenvolk. Die Ordination ist für die meisten Leute im Talar trotzdem etwas Besonderes. Schließlich verbindet sich mit diesem Tag die Hoffnung, dass beide, Himmel und Erde, einem wagemutigen Menschenkind Rückhalt auf einem ungewissen Dienstweg geben werden.

Als ich zuzog, 1968, hatte ich wichtige berufliche und persönliche Gründe, mich bald mit den Leitwölfen der evangelischen Ortskirche bekannt zu machen. Leitwölfinnen, jedenfalls solche im Talar, gab es vor Ort noch auf lange Jahre nicht. Leitwolf, für mich als Freizeitbiologen, war das schon damals ein sehr respektabler Begriff. Aber wo zuerst anklopfen in einer fremden Großstadt? Die Hinweise verdichteten sich bald auf den Jubilar von heute. Der könne einem Lichter aufstecken, hieß es, und sei ein besonders geschickter Winzer im Weinberg des Herrn.

Also melde ich mich zuerst bei dem Mittdreißiger und bin beeindruckt: ein junger Pfarr-Herr, der offenbar ernsthaft Theologie betrieben hat, bevor er sich seiner Gemeinde zuwandte. Das Gemeindezentrum: Kirche, funktionales Gemeindehaus und Pfarrhaus sind bereits fix und fertig. Ob er selbst die Baumaßnahmen in seinen ersten Amtsjahren zügig verwirklicht hat, oder ob andere ihm die Gebäude schon früher hingesetzt haben? Ich weiß es nicht mehr. Wie auch immer: hier schien eine Stadtteilgemeinde wirklich gute Startbedingungen zu besitzen: ein energischer Pfarrer mit Konzept. Dazu ein großzügiger Anteil an dem kirchengeschichtlich beispiellosen sakralen Bauboom der ersten Nachkriegsgeneration!

Was soll ich sagen? Das Zentrum erwies sich wirklich als Zentrum, über Jahrzehnte. Kein Quadratmeter war am Bedarf vorbei gebaut. Mein „Informant“ und ihn kontrastreich ergänzende Amtsbrüder (Kirchendeutsch-West) bzw. Kollegen (Kirchendeutsch-Ost) erreichten Viele aus der damals alten und der damals jungen Generation; gefühltes Verhältnis eins zu eins, eine Traumquote. Die Kirche sah Gottesdienste, Feiern und Gebetsgemeinschaften ganz unterschiedlicher Form und Atmosphäre. Sie war kein teures, weil wochentags leer stehendes Wochenendhaus des lieben Gottes. Der Jubilar stark genug war, auch das ganz Andere und die ganz andere charismatische Persönlichkeit zuzulassen, vielleicht zu ertragen; von wegen „Selig sind die Beene, die am Altar stehn alleene!“

Das Veranstaltungsangebot für Erwachsene und Alte war einfühlsam und vielgestaltig, mehr als drei Jahrzehnte lang. Unbestritten war der Mann, an den ich mich heute erinnere, all die Jahre die Stimme der Evangelischen Kirche in den lokalen und regionalen Medien.

Nein, faul bist du nicht gewesen. Ohne Konzept auch nicht. Immer glücklich gewiss nicht, aber wer von uns Aktiven in der Kirche kann das schon ehrlichen Herzens behaupten?

Und heute? Möge er die Zuwendung und Anerkennung genießen, die ihm heute zuteil werden. Unter seinesgleichen war er schon jemand!

Aber kann irgend jemand von den hauptberuflichen Arbeiterinnen und Arbeitern im Weinberg des Herrn, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschlands evangelischen Kirchen zu Werke gingen, vergessen und verdrängen, dass unter unseren Händen die überkommene Kirche ausgetrocknet, zerbröselt, mehr und mehr kraftlos und sprachlos geworden ist – ganz und gar unabhängig vom guten Willen und Einsatz der Einzelnen?

Sollte ich selbst den 50. Jahrestag meines Lebens als Arbeitnehmer der Kirche erleben, ich müsste mich an den Realismus des Fischer Simon Petrus halten: „Herr, wir haben die ganze Nacht gearbeitet – und nichts gefangen“. Und damit meine ich nicht das verblassende Bild einer Kirche der Schau-Effekte und gesellschaftlichen Privilegien. Die waren mir aus Gründen meiner Herkunft immer relativ egal.

Aber ich kann nur schwer ertragen, dass es uns immer seltener gelingt, die wahrhaft alternative und zukunftsfähige Botschaft Jesu an Mitmenschen zu verschenken, sie auf seinen Weg zu stupsen. Alles andere zählt ja nicht. Auch nicht für die, die sich zum Wohl der Menschheit und zur Ehre Gottes vor allem eine Kirche im Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung herbeisehnen.

Das Sündenregister der „Väter“, das zum historischen Glaubwürdigkeitsverlust speziell der evangelischen Kirchen in Deutschland geführt hat, ist mir mit vielen schlimmen Details geläufig: Versagen angesichts der Arbeiternot im 19. Jahrhundert; Ja zu zwei Weltkriegen; lähmende Angst vor der Hitler-Tyrannei; tödliches Schweigen während des Holocaust…

Aber die fleißige Pastorengeneration der Nachkriegsjahrzehnte ist – zusammen mit einigen Millionen aktiven Christinnen und Christen – nicht nur wegen historischer Schuld älterer Generationen mit einer erschreckenden Bilanz belegt worden. Ich denke, wir alle, egal welches Tagewerk wir in der Kirche zu verrichten hatten, haben uns nach 1945 auf ein „weiter so“ eingelassen – ehrlich gemeinte Schuldbekenntnisse inklusive. Wir sind dabei von der säkularen Gesellschaft sogar gestützt und ermuntert worden. Für eine ganze Reihe von Zwecken wurden und werden wir ja gebraucht. Aber was hilft das alles einer Kirche, die Schaden genommen hat an ihrer Seele? Wer mag es da noch riskieren, den PastorInnen-Beruf in dieser Kirche mit akuter Atemnot anzustreben? Sie sind nur noch eine Handvoll.

Darum hat es mich so gepackt, als einige Kirchen im afrikanischen Ruanda, deren Menschen und Gebäude in den Völkermord von 1994 verwickelt waren, vor die Frage gestellt wurden, ob sie sich nicht auflösen und etwas völlig Neuem, das gewiss kommen würde, den Platz freimachen sollten.

Ruanda ist weit weg. Unsere Verantwortung betrifft Gestalt, Reden und Handeln unserer schwer belasteten Kirche in Deutschland. Ich spüre die Lähmung des Profis Simon Petrus. Ich weiß, was er anschließend mit Jesus von Nazareth und durch ihn, mit Gott erlebt hat. Ich freue mich mit allen, denen es heute so ergeht, rund um den Erdball.

Ob wir noch einmal an die Reihe kommen?

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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