Sant´Anna di Stazzema und Golgatha

Fastenaktion 2013, 26. März

Ich hatte es schon wieder vergessen: ich gehöre zum selben Geburtsjahrgang wie der amtierende Bundespräsident. Das ist weder eine Ehre, noch eine Bürde, eigentlich! Aber heute habe ich doch das Empfinden, dass es für Deutsche immer noch eine seelische Last sein kann, im Jahr 1940 geboren zu sein.

Immerhin war ich schon ein unternehmungslustiges Kind, die Freude meiner Mutter und meines Großvaters, als geschah, weshalb der bis auf wenige Tage gleich alte Präsident Joachim Gauck jetzt nach Italien gereist ist. Zusammen mit dem italienischen Staatspräsidenten hat er das Dorf Sant´Anna di Stazzema in der Toskana besucht; Schauplatz eines der unfasslichen Kriegsverbrechen der SS. Am 12. August 1944 ermordete die deutsche Truppe dort die gesamte Bevölkerung, vom Säugling bis zum Greis, 560 Menschen. Wenige Kinder überlebten. Sie blieben in ihren Verstecken unentdeckt. Es verbietet sich, die offizielle Rechtfertigung, – „Bandenbekämpfung“ – aus den Akten hervorzuzerren.

Der Deutsche soll am Ort des Verbrechens angemessene Worte gefunden haben. Das muss ihm umso schwerer gefallen sein, als die Strafverfolgung einer Handvoll überlebender Täter an rechtlichen Hürden gescheitert ist. Auch eine materielle Entschädigung kam nicht zustande.

Es macht wenig Sinn, eine Liste der von Hitlers Bewaffneten ausgerotteten Dörfer Europas aufstellen zu wollen. Wenn Oradour-sur-Glane, Lidice, Sant´Anna di Stazzema und ein paar hundert andere bekannte Totendörfer aufgelistet wären, blieben doch abertausende Dörfer ungenannt; die meisten von ihnen in Polen und der ehemaligen Sowjetunion.. Wen hat in Zeiten des Rassenkrieges und der „Verbrannten Erde“ noch die Zahl der Dörfer interessiert, die eine Truppe zerstampft zurückgelassen hat.

Natürlich konnte ich keinem Menschen in den Ländern, die Hitlerdeutschland überfallen hat, etwas zu Leide tun. Aber wir Vierjährigen von 1944 hatten Papas, die beim Heimaturlaub mit uns stolz Hoppe-Hoppe-Reiter spielten. Womöglich habe ich meinem Vater auch mal an seinem EKI genestelt und er war amüsiert. Aber dieselben Väter haben ihre Soldaten in die Dörfer voller anderer Vierjähriger geschickt. Und wer von denen sich nicht verstecken konnte, bekam die Kugel. Eine Vätergeneration, die ihren Kindern, insbesondere ihren Söhnen, die Erfahrung schuldig geblieben ist, dass es im Leben mit rechten Dingen zugeht! Wenn ich mich in die Rolle der beiden Präsidenten auf dem Marktplatz von Sant´Anna di Stazzema hinein zu fühlen versuche, dann hat es der Italiener vielleicht etwas leichter gehabt. Nicht, weil er sich auf der Seite der Opfer wissen konnte. Giorgio Napolitano ist einfach älter, sehr alt für einen aktiven Politiker. Er war 1944 schon ein junger Mann von 19 Jahren. Jemand der schon Verantwortung tragen konnte und wahrscheinlich auch getragen hat. Wir Kriegskinder waren und sind in absurder Schicksalhaftigkeit davon abhängig, welche Art von Befehlsempfänger unsere Väter waren.

In dieser Karwoche werden wir in den christlichen Gemeinden in Deutschland und Italien statt von dem Dorf in der Toskana wieder von Golgatha reden, dem Exekutionsplatz vor den Toren Jerusalems. Die vier Evangelien im Neuen Testament erschließen signifikant unterschiedliche Blicke auf die Seele des dem Kreuzestod ausgelieferten Jesus von Nazareth. Aber keiner dieser Berichte stößt den Sterbenden in einen Abgrund der Sinnlosigkeit; selbst jener nicht, der Jesu Todesschrei überliefert: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Das bleibt ein Unterschied zwischen Golgatha und Sant´Anna di Stazzema: der Unterschied zwischen der Todesangst und Todesnot derer, die doch wissen, dass Gott oder ihr Gewissen sie diesen Weg geführt haben; sogar, dass ihr bitterer Tod nicht das letzte Wort, das vernichtende Urteil ist. – Und jenen, die in blinder Mordlust dahingerafft werden, die bis auf wenige Momente der Fassungslosigkeit ihre Seele nicht bereiten können.

Jesus, über den die Christen wissen, dass der Tod ihn noch nicht einmal festhalten konnte, ist nicht der einzige, der sinnerfüllt sterben konnte, als er es musste. Ungezählte konnten es, Menschen aus seiner Jüngerschaft in allen Jahrhunderten. Viele andere Menschen mit kostbaren Überzeugungen, Haltungen und Zielen, von denen sie nicht lassen wollten.

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Der Kreuzesschrei von Golgatha findet entsetzten Widerhall an Orten wie Sant`Anna di Stazzema. Aber hier wie dort ist er nicht das letzte Wort.

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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