Sommerwochen 1944 2014

Die ersten Landsleute beginnen mit dem Kofferpacken. Wenige Tage noch, dann bricht sich die Urlaubssaison 2014 Bahn. Für die einen beginnt sie auf Balkonien mit der Kicker-WM, für die anderen in sicherem Abstand zum Alltag an den Stränden, von der Costa Brava über Antalya bis in die Karibik.
Und niemandem, wirklich niemandem, im Stau, am Grill, sogar nicht denen am idiotischen Ballermann mag ich mit erhobenem Zeigefinger Geschichtsvergessenheit unter die Nase reiben. Von der Art: „Denkst du im Sommer 2014 eigentlich mal daran, wie Hitlers Deutsche und ihre Opfer den Hochsommer 1944, den vor genau 70 Jahren, durchlebt und durchlitten haben?“

Nachdenklichkeit auf Knopfdruck funktioniert nicht und macht keinen Sinn. Und 120 Sekunden TV-Bilder Obama, der Queen, Hollande und Merkel, zusammen mit 90jährigen Veteranen an der Omaha-Beach in der Normandie, das geht ja wohl auch hier rein und da raus.

Alle, die sich über Jahrzehnte mit dem was war, mit seiner Bedeutung für heute und morgen beschäftigt haben, wissen vermutlich, wie weit entfernt, hinter wievielen Horizonten dieses Deutschland von 1944 und das von ihm gequälte Europa heute liegen. Nahezu alle Alltagsprobleme, Wertmaßstäbe, Urteile, Sehnsüchte, Vergnügen, Feindbilder, Über-Lebensregeln haben sich seither dramatisch verändert. Jungen Leuten muss es schwer fallen, sich vorzustellen, dass die Rollator-Oma und der Krückstock-Opa in jener Zeit wirklich unlöschbare Programme in ihre Kinderseelen aufgenommen haben.
Solange unser Leben einen eher undramatischen Lauf nimmt, neigen wir ja dazu, unsere Echtzeit für das Maß der Dinge, für die DIN-Norm der Geschichte zu halten. Das senkt einfach den Blutdruck!
Nein, keine Zeigefingerübungen! Aber doch die Überlegung, dass es besser ist, mit dem Erinnern nicht bis 2019 zu warten, wenn die Jubiläums-typischen 75 Jahre voll sind. Dann wird die Demenz viele derer, die heute noch ehrlich und ernsthaft Zeugnis geben können, in ihrem unbarmherzigen Griff halten. Und, wer weiß, vielleicht können Europas Völker im Ukraine-Sommer 2014 ja ohnehin ein paar hilfreiche Erinnerungen brauchen.
So musste der aktuell gescholtene Präsident Russlands an der Omaha-Beach unbedingt die seinerzeitige Sowjetunion in Erinnerung rufen. Ohne die militärisch überwältigende Sommeroffensive der Roten Armee, begonnen am 22. Juni 1944, wäre das Resultat der westalliierten Invasion mittelfristig recht unberechenbar gewesen. Wo wären bei einem verlängerten Krieg gegen Hitlerdeutschland die ersten Atombomben gefallen?
Können wir uns heute noch vorstellen, welche alles Menschliche erdrückenden Kübel von Hass und Mordlust unter dem Hakenkreuz über die Menschen in der Sowjetunion ausgeschüttet worden sind? Lange, bevor die ersten Rachemorde und Sexualverbrechen bei der Eroberung Ostdeutschlands geschahen.
Der Sommer 1944: damals beginnt jenes Dreivierteljahr, in dem auch mehr Deutsche – meine Familie eingeschlossen – elend ums Leben gekommen sind, als in den fast fünf Kriegsjahren vorher. Nahezu jeder von uns, die damals schon lebten, muss eigentlich dem Kriegstod statistisch ein paarmal von der Schippe gesprungen sein. Damals ein Auge auf kleine Kinder haben zu müssen, war wohl eine nie abklingende Angst.
Kaum etwas befremdet mich mehr, als die Entdeckung, dass sogar Menschen aus meinem eigenen Lebenskreis vor genau 70 Jahren in privaten Situationen noch die Siegpropaganda rund um die Invasion nachgebetet haben. Wo soll ich das Verständnis dafür hernehmen?

Manche, denen in den nächsten Wochen ebenfalls 70jähriges Erinnern gewidmet wird, riskierten damals im Verborgenen Ihr Leben: die, die wir heute Widerständler nennen; die, die mit und ohne Kontakt untereinander über die Überwindung des Naziterrors nachdachten und konkret dafür planten. Der Weg bis zur gesellschaftlichen Anerkennung ihrer Haltung dauerte auch nach 1945 noch Jahrzehnte. Im Sommer 1944, nach dem 20. Juli, waren sie für die eindeutige Mehrheit unseres Volkes Abschaum.
Nicht wenige dieser Widerstehenden haben ihre Entschlossenheit aus der Kenntnis des Holocaust geschöpft. Im Sommer 1944 ist es auch genau 70 Jahre her, dass unsere Schergen zum letztenmal eine nationale jüdische Gemeinde in Europa zur Vernichtung zusammentreiben konnten. Ungarns Juden sind zeitgleich mit der beginnenden militärischen Liquidation des Hitlerreichs Güterzug für Güterzug zu den Gaskammern von Auschwitz gekarrt worden, eine halbe Million Kinder Gottes.

Geschichte wiederholt sich nicht wie eine abermals abgespielte Schallplatte. Trotzdem muss jeder NATO-Sprecher auf seiner Pressekonferenz und jedes Polit-Alphatier in Kiew und Moskau genug europäische Geschichte kennen, um 2014 die Büchse der Pandora nicht leichtfertig zu öffnen.

Möge der Sommer 2014 wenigstens für die große Mehrheit der Menschen Europas langweilig-normal bleiben!

 

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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