Sterben wie in „La Bohème“

Fastenaktion 2013, 24. März

Auch große Tage verlieren mit der Zeit ihren Glanz. Heute bedarf es mühseliger Öffentlichkeitsarbeit, um dem 24. März 1882 wenigstens ein ganz klein wenig Beachtung im Schlagzeilengedränge zu verschaffen. Dabei wurde an jenem Tag ein Feuerwerk der Hoffnung für Abermillionen Menschen entzündet. Eine Hoffnung, die nicht getrogen hat. In Berlin gab der Arzt und Forscher Robert Koch die Entdeckung des Tuberkulose auslösenden Bazillus bekannt. Das erwies sich als erster Schritt auf dem Weg zum weitgehenden Sieg über Europas Volksseuche Nummer Eins. Bis in unsere Tage erscheint die Tuberkulose in einheimischen Krankheitsstatistiken unter „ferner liefen“.

Im Alltag sprachen die Leute von der Schwindsucht. Sie grassierte in den Elendsquartieren der neuen Industriestädte. Aber auch die Jugend von Adel und Bürgertum musste der Seuche immer wieder Tribut zollen. Der unerwartete tragische Tod blühender junger Menschen durch die Schwindsucht war derart glaubhaft, dass er tausendfach Eingang in die Literatur fand, von Meisterwerken bis zum Tränendrüsen-Kitsch. 1896 noch lässt Giacomo Puccini in der Oper „La Bohème“ seine Hauptperson Mimi an der Schwindsucht sterben. Alle Zuhörer fanden das glaubhaft und waren gerührt. Die Diagnose „Schwindsucht“ muss die Betroffenen derart ins Mark getroffen haben, wie wir das heute mit der Mitteilung über eine nicht mehr behandelbare Krebserkrankung verbinden.

Der Termin für den Welt-Tuberkulosetag, der 24. März, ist also nicht in irgend einem Büro der Weltgesundheitsorganisation WHO willkürlich ausgewürfelt worden. Er hält die Erinnerung daran lebendig, wie sich an einem konkreten Tag der Lebenshorizont ganzer Generationen bleibend aufgehellt hat.

Ob ich zu dem Drittel aller Menschen gehöre, die Tuberkulose-Erreger in sich tragen, wäre für mich interessant zu wissen, kaum mehr. Die allermeisten Träger des Bazillus erkranken ja nie. In meinem kleinen Gesichtskreis weiß ich von einem einzigen nahestehenden Menschen, der in jüngeren Jahren lange damit zu tun hatte, eine „TB“ zu besiegen. Freilich war das auch eine Hürde für das berufliche Vorankommen. Arbeitgeber verstehen bei dieser Diagnose immer noch keinen Spaß.

In unseren Tagen geht es aber um mehr, als dankbar an medizinische und gesundheitspolitische Erfolge der Vergangenheit zu erinnern. In Afrika grassiert Aids, – „and the winner is tuberculosis“. Keine andere Sekundärerkrankung rafft so viele geschwächte TrägerInnen des HI-Virus dahin wie die Tuberkulose. Und auch ohne Aids: die Slums der Millionenstädte zehren ihre BewohnerInnen derart aus, dass die Infektionskrankheit sich ihren Spitzenplatz in den Statistiken menschlichen Leids zurück erobern konnte. Menschen, die in Abfall und Dreckbrühe überleben müssen, weder angemessene Ernährung noch medizinische Dienste bezahlen können, haben gegen Bakterien, die ihre Aggressivität ständig nachschärfen, am Ende keine Chance. Darum bildet die Tuberkulose, zusammen mit Malaria und Aids heute das böse Trio der Armutskrankheiten, denen die Menschheit koordiniert zu Leibe rücken will.

Diese Allianz willkommen zu heißen, ist eine Sache. Ständig ein Auge darauf zu haben, dass unser wohlhabendes Land seinen angemessenen Beitrag zu den Programm-Fonds der UNO beiträgt, ist die andere. Alles, was nicht auf Exportförderung hinausläuft, ist in unserer staatlichen Entwicklungspolitik ja kein Selbstläufer. Als evangelische Christenmenschen können wir immerhin darauf verweisen, dass „Brot für die Welt“ und die Missionswerke nicht nur viele Basisgesundheits-Programme im Kampf gegen die schreckliche Armuts-Tuberkulose finanziell unterstützen. Mühseliger als unsere Förderungen ist die aufopfernde Arbeit so Vieler, die im Gesundheitsdienst unserer Partnerkirchen und -Organisationen stehen. Ganz am Ende steht z.B. die liebevolle Sturheit, mit der Menschen darauf achten, dass Kranke in ihrer Nachbarschaft während der langwierigen Behandlung regelmäßig ihre Medikamente nehmen.

Die Hoffnung auf Siege im Kampf gegen die neue Tuberkulose lebt, so lange wir Menschen gewillt sind, einander beizustehen! Grauen erfasst mich dagegen, wenn ich mir klar mache, dass Massenmord-Experten in den Kriegslaboratorien sich jedes tödliche Bakterium und jeden Virus zunutze machen, dessen sie habhaft werden können. Wir müssen es für möglich halten, dass auch das Tuberkulose-Bakterium in Bereitschaft gehalten wird – selbstverständlich nur zur Abschreckung.

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
Dieser Beitrag wurde unter Gedanken zur Fastenzeit 2013 abgelegt und mit , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.