Stromausfall

Fastenaktion 2013, 21. März

Wir Alten sind Gewohnheitstiere. So um fünf ereilt mich seit Jahr und Tag der innere Weckruf, wahrscheinlich die Strafe für fahrlässig erworbenen Bluthochdruck. Wegschleichen von der ehelichen Schlafstatt, zwei Medikamente schlucken, erledigen, was sonst so im Badezimmer anliegt; Kaffeewasser aufsetzen; Computer wachkitzeln. Spätestens jetzt müsste ich es merken, wenn der Strom weg wäre. Ein-, zweimal im Jahr ist das hier so, im ländlichen Sachsen-Anhalt. Marode Leitungen, vermutlich unterbesetzte Reparaturdienste.

Nun ja, ich habe Schlimmeres erlebt. In Kindertagen war uns Kleinen das Wort „Stromsperre“ geläufig. In den zerbombten Städten saß den Erwachsenen der Zeitplan der Stromabschaltungen im Nacken. Nötigenfalls wusste ich genau, wo Kerzen und Streichhölzer lagen und konnte sie auf Verlangen im Dunkeln heranschaffen. Aber Strom wurde auch 1947 nicht nur für die Glühbirnen gebraucht.

Heute, am Frühlingsanfang 2013, wäre einer unserer seltenen Stromausfälle allerdings sehr ärgerlich gewesen. Denn vor der Tür gefriert mir der Atem im Bart. Lausige Kälte bei geschlossener Schneedecke. Heute Nacht sind wieder zehn Zentimeter dazu gekommen. Also Heizung hochfahren! Weniger für mich. Meine Speckschicht, samt Wollpullover und Phlegma lassen mich auch bei 14 Grad Raumtemperatur keine allzu große Not leiden. Aber die Mutter meiner Kinder, wenn sie gegen acht die Bühne betritt, wird binnen Minuten ein Bild des Jammers abgeben. Dem Klapperstorch muss seinerzeit ein schlimmer Navigationsfehler unterlaufen sein, als er sie in einem schlesischen Elternhaus abgeliefert hat. Eigentlich gehört sie in Äquatornähe. Da die Dinge aber nun mal so liegen, wie sie es tun, hat sie ein Anrecht auf 18, besser 19 Grad auf der Haut. Dafür muss die Heizung in den von Ihr bevorzugten Teilen der Wohnung ab sechs Uhr laufen. Wir heizen mit Erdgas. Trotzdem legt ein Stromausfall selbstverständlich auch unsere Heizung lahm. Die System-Steuerung braucht nun mal Strom.

Elektrischer Strom unmittelbar als Heizenergie wäre freilich ein finanzielles Desaster. Verrückterweise sind es aber unsere wirklich armen Nachbarinnen und Nachbarn, die unverhältnismäßig oft mit Strom heißen müssen. In ihren Bruchbuden, nicht selten vermittelt durch kriminelle Miethaie, funktioniert schon lange keine Zentralheizung mehr. Da bleiben nur einzelne Elektro-Öfchen. Sogar alte Elektroherde mussten schon als Wärmelieferanten herhalten. Ruck-Zuck werden da die Stromrechnungen unbezahlbar. Die Energieversorger mahnen und leiten flott das Verfahren zur Verhängung der Liefersperre ein. Rückstände von 50 oder 100 Euro – für andere das Ticket für ein besseres Pop-Konzert – bringen den Stein ins Rollen.

Wirklich auf die Füße fällt der Stein jedes Jahr etwa so vielen Menschen, wie in Bremen leben. Ich schließe das aus der Zahl der vollzogenen Liefersperren, multipliziert mit der Kopfzahl einer Kleinfamilie.

Unsere Kleinfamilie zahlt Anno 2013 37 Euro Monatspauschale für reichlich 1.200 kWh Jahresverbrauch. Welche strom-basierten Gehhilfen des Verbraucher-Alltags können wir uns dafür leisten? Begleiten Sie mich durch unsere Wohnung:

In allen Räumen: Lampen und Heizung. Küche: Elektroherd, Kühlschrank, Radio, CD-Player, Steckdosen für Küchengeräte, Warmwasser. Büro: PC-Arbeitsplatz samt Drucker und Internetzugang, Telefon. Wohnzimmer: Fernseher, Musikanlage. Schlafzimmer: nix. Gästezimmer: nix. Badezimmer: Waschmaschine, Wäscheschleuder, Warmwasser. Flure: nix. Keller: Tiefkühltruhe. Ich weiß, einiges fehlt, als da wären Geschirrspüler, Mikrowelle, Wäschetrockner usw. Aber auch mit etwas abgespeckter Beschaffungsliste bleiben wir Stromabhängige. Nicht ein Rührei, nicht eine Tasse Kaffee, nicht ein gebügelter Hemdkragen ohne Strom. Strom ist für uns alle definitiv eine Erscheinungsform des Täglichen Brotes – im Sinn der klassischen Definition von Martin Luther: „alles, was zu des Leibes Nahrung und Notdurft gehört.“

Weshalb es einem Christenmenschen, der den Kopf frei hat von drückenden Sorgen der Armut, auch gut ansteht, zu überlegen, wo er das Lebensmittel „Elektrischer Strom“ einkauft. Die Energiewende, weg von den nicht zukunftsfähigen Energieträgern beginnt ja in unseren Köpfen und in unseren Herzen, wo die Hoffnungen zu Hause sind, unabhängig von unserem Alter.

Aber reicht das, wenn ich mir klar mache, dass eine Menge Leute heute morgen mächtig gefroren haben müssen? Reicht es, mir vorzusagen, dass viele der Abgehängten nur rechtzeitig mit ihrem Versorger hätten reden müssen? Oder eben doch eine unantastbare Rücklage bilden?

Da bleibt trotzdem die gefühlte Hilflosigkeit beim virtuellen Gang durch meine stromlose Wohnung. Gehört eine Strommenge X heute nicht doch zu dem Grundbedarf des Lebens, den weder der Gerichtsvollzieher pfänden, noch Unternehmen und Sozialpolitik verweigern dürfen?

Riskieren wir ein paar Ideen!

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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