Verlassene „Pfarrkinder“?

 

 

Gibt es für Kinder einen größeren Horror als die Angst, verlassen zu werden? Wohl kaum! Und wie ist das mit „Pfarrkindern“? Ach, Sie kennen diesen Ausdruck gar nicht?

 

Ich bin mit ihm aufgewachsen. Pfarrkinder, das waren die Mitglieder der katholischen St. Josephsgemeinde; die gestandenen Bauern und Handwerker unseres Dorfes, samt ihrem Anhang. Mit ihrer Meinung über uns unverhofft zugezogene evangelischen Flüchtlinge hielten sie nicht hinter dem Berge. Ihre Rolle als Ernährer der Deutschen vor und auch noch nach Abschaffung der Lebensmittelkarten ließ sie vor Selbstbewusstsein beinahe platzen. Und wehe dem Sohn, der sich einfach so in ein evangelisches Flüchtlingsmädchen verguckt hätte – und wenn sie zehnmal die Tochter eines nun mittellosen schlesischen Großbauern gewesen wäre.

 

Nein, da war Bauer Schulte-Sowieso nicht nur Herr auf der eigenen Scholle, sondern mit seinen 58 Jahren und seiner ganzen Familie auch ein folgsames „Pfarrkind“. Die sozialen Spielregeln kamen seinerzeit nun mal aus dem Pfarrhaus. „Hochwürden“ hätte schon eine Menge Übles anstellen müssen, um nicht mehr „Hochwürden“ zu sein. Unbeweibt und würdevoll wie Miraculix, der Gallier-Druide, hatte „Hochwürden“ seinen Logenplatz bei allem bedeutsamen Dorf-Events. 30-, 40-jährige Ortsjubiläen waren nicht sehr selten. Die Amtseinführung eines Neuen war ein monarchie-ähnliches Schauspiel, bis hin zum Aufgebot von allerlei Rössern.

 

Im Kirchendeutsch ist „Pfarrkind“ kein besonders evangelischer Begriff. Das unter uns hochgehaltene „Priestertum aller Gläubigen“ und die nicht-sakrale Definition des evangelischen Pastorenberufes stehen dem entgegen. Aber theologische Theorie und gemeindliche Psychologie sind doch zwei verschiedene Paar Schuhe. Dass die Pfarrerin bzw. der Pfarrer den Laden zu schmeißen haben, dass ihre beruflichen Qualitäten das wichtigste Plus oder Minus einer Gemeinde darstellen, gilt mehrheitlich als ausgemacht.

 

Vor 30, 40 Jahren, als mehrfache Stellenwechsel zum Berufsweg der meisten evangelischen PfarrerInnen gehörten, – als diese Praxis auch organisatorisch noch keine Probleme bereitete, – versuchten die Kirchenämter, insbesondere dem Wandertrieb der jüngeren Talarträger gewisse Grenzen zu setzen. In meiner westfälischen Heimatkirche galt z.B. die Maßgabe, dass man in der ersten Gemeinde mindestens fünf Jahre zu arbeiten hatte. Wer allerdings nach zehn Jahren immer noch am Schauplatz des ersten Hörner-Abstoßens verweilte, machte sich schon leicht verdächtig. PfarrerInnen kamen und gingen in etwa so, wie die Jahrzehnte. Und das Bedauern über den Abschied des einen – wenn es denn Bedauern war, und nicht Erleichterung – wich bald der belebenden Frische eines Neubeginns.

 

Die Zeiten, mit ihnen die Zeiten unserer Kirche, haben sich geändert. Aus dem „Bruderberg“ gegen Ende des 20. Jahrhunderts, von spöttischen Mäulern dem EU-Schweineberg nachempfunden und offiziell „Theologenreichtum“ genannt, entwickelt sich eine neue Mangelsituation. Das betrifft die verfügbaren Frauen und Männer und natürlich auch die Möglichkeit unserer Kirchen, sie ausreichend zu bezahlen. In der Kirche Jesu Christi auf Erden gibt es ungezählte Gemeinden, die für weit weniger als tausend Christenmenschen einen Pastor/Prediger/Reverend/Priester, wie immer sie ihre Hauptberuflichen nennen, in Dienst nehmen.

 

In unserem heimischen kirchlichen Koordinatensystem sind tausend Leutchen, zzgl. ein paar Hundert, für eine Vollerwerbsstelle aber einfach zu wenig. Das kann zum zusätzlichen Handicap werden, wenn die Pfarrstelle unserer Gemeinde nun neu besetzt werden muss, weil unser Pfarrer sich nach vierzehn Jahren einer neuen Aufgabe stellt. Ein administrativer Abschlag bei der Bewertung des Arbeitsumfangs bedeutet selbstverständlich einen entsprechenden Abschlag beim Lohn. Aber umgekehrt wird aller Wahrscheinlichkeit nach kein Schuh daraus: mal angenommen – ganz theoretisch – unsere Pfarrstelle würde mit 75% einer Vollstelle bewertet. Glaubt Ihr wirklich, dass die Leute eine Abwesenheit des oder der Neuen an Ein-Zwei-Drittel-Tagen-pro Woche akzeptieren würden – weil er oder sie dann „aufstocken“ muss, als Taxifahrer oder Nachhilfelehrerin? Unterm Strich gilt schließlich doch wohl eher die Erwartung: „Ein Pfarrer ist immer im Dienst“ – und sei es um Gotteslohn.

 

Probleme, denen unser Gemeindekirchenrat sich nach dem 10. November 2013 stellen wird, wenn unser Pfarrer Dank und Lebewohl entgegengenommen hat. Aber eines muss unter uns heute schon sonnenklar sein: in weit mehr als einem Jahrzehnt Pastorenarbeit, die durch Treue, Konzept, Achtsamkeit und Fleiß charakterisiert waren, hat er sich das Recht erworben, ohne eine Spur von schlechtem Gewissen einem neuen Ruf zu folgen. Sein 50. Geburtstag, kürzlich von Vielen mit gefeiert, bezeichnet in der Lebenskunde eine Station, die begründeten Wechsel nahelegt – besonders, wenn erworbene Erfahrung jetzt in Leitungsarbeit umgesetzt werden soll.

 

Und wenn wir trotzdem ein leichtes Zittern im Fußboden unserer beiden Kirchen, in Gemeindehaus und Kindergarten spüren? Dann sollten wir uns fix daran erinnern, dass wir keine „Pfarrkinder“ im Geist vergehender Pfarrer-Kirchen sind. Ich füge hinzu, auch keine „Pastoren-Schäfchen“, diese idyllisch-kitschige Spezies, die noch nicht ausgestorben ist. Der „Gute Hirte“ ist ja eigentlich nur Einer. Bei Gefahr gleich ihm zum Hüter der Bedrohten zu werden, ist in der Christenheit keine Rolle, für die exklusiv theologische Examen qualifizieren.

 

Die Zeit bis zur Einführung einer oder eines neuen Pfarrers, diese Zeit von ungewisser Dauer, kann für uns eine Zeit des Wachstums werden. Äußerlich wohl nur bei genauerem Hinsehen zu entdecken. Aber deutlich zu fühlen in Herz und Sinn. Da wächst in uns eine tragende Gewissheit: vor allem anderen bin ich selbst ein unentbehrlicher Baustein der Kirche. Ich nehme diese Rolle an, gern und voller Hoffnung. Was ich geben kann an Liebe, Fleiß und Klugheit: es ist genug, und es lohnt sich! Mein Gott erbittet nur zurück, was er vorher in mein Leben hineingelegt hat.

 

Gemeinsam werden wir eines hoffentlich baldigen Tages einer neuen Pastorin, einem neuen Pastor dabei helfen, den Beruf zeitgemäß auszufüllen, mit den richtigen und einvernehmlichen Schwerpunkten – in unserem Auftrag, nicht an unserer Stelle!

 

Außerdem: wenigstens an Sonn- und Feiertagen werden wir vertraute Bilder und Erlebnisse auch während der pfarrerlosen Durststrecke nicht entbehren müssen. Wie andere Leute Briefmarken, so hat es unser scheidender Pfarrer verstanden, Leute zu sammeln, die sich nicht zieren, ehrenamtlich im Talar vor die Gemeinde zu treten; angefangen bei leibhaftigem Superintendenten und Theologieprofessor, beide im Ruhestand. Und wenn wir freundliche Einlader sind, haben wir vielleicht sogar die Chance, bis zum unbestimmten Tag der Einführung alle PfarrerInnen des ehrwürdigen Kirchenkreises Magdeburg einmal bei uns zu Gast gehabt zu haben. Ich würde daraus ein Projekt machen!

 

Trotzdem: noch gespannter bin ich auf den Tag, an dem Christenmenschen aus unserer Mitte – sei es Kindergarten, Jugend, Gemeindekirchenrat es wagen, zu einem Gottesdienst einzuladen, der von ihren Gedanken und ihren Hoffnungen erfüllt ist.

 

Von wegen Pfarr- „Kinder“!

 

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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