Gelitten unter Pontius Pilatus

Apostolisches Glaubensbekenntnis (5)

16.03.2014

Gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben“

Meine beiden Konfirmandenjahre habe ich im Heim erlebt, in einem evangelischen Heim. Einem schriftstellernden Mitschüler war es gruselig genug, um darüber Jahr­zehnte später einen Enthüllungsroman in Sachen „Schwarze Pädagogik“ zu schrei­ben. Entsprechend rau waren die Sitten und die Strafen. Im Konfirmandenunterricht warf der Pfarrer schon mal mit hartkantigen Gesangbüchern. Und wer zu sehr über Glaubens­sachen spottete, riskierte die Zulassung zur Konfirmation. Gefährlich war u.a. dieser blöde Witz: „Was weißt du über die Krankheiten von Jesus? Er litt unter Pontius Pilatus!“

Statt zu toben, hätte Pfarrer M. besser die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und uns Bengels erklärt, warum unsere christlichen Vorfahren den Namen dieses römischen Spitzenbeamten als einzigen außer dem der Mutter Jesu im Glaubensbekenntnis verankert haben: auf Latein „passus sub Pontio Pilato“, gelitten unter Pontius Pilatus. Pontius Pilatus, Vorname unbekannt – Römernamen waren ja dreiteilig (Gaius Julius Caesar), Geburts- und Todesjahr ebenso unbekannt, von 26-36 nach Chr. Präfekt der römischen Provinz Judäa. Alles in allem lassen die biblischen und die außerbibli­schen Quellen aber keinen vernünftigen Zweifel daran zu, dass der Mann existiert hat und dass er diesen Job in der römischen Imperiumsverwaltung inne hatte, mit einer zehnjährigen Amtszeit sogar ziemlich lange. „Unter Pontius Pilatus“ will dabei nicht ausdrücken, dass der Römer ein Sadist war, dass er den Angeklagten Jesus absichtlich quälend behandelt habe. Das Wort „unter“ hat vielmehr Anklang an „während der Kanzlerschaft von Angela Merkel geschah dies oder jenes“ – egal wieviel sie damit persönlich zu tun hat. Pilatus hat aber sehr wohl mit Folter und Tod Jesu zu tun. Aber nicht er allein – und die Evangelien sehen seine Rolle aus deutlich verschiedenen Blickwinkeln.

Die Erwähnung des Namens ist einfach wichtig für die Orientierung in einer Zeit, die keine Jahreszahlen in unserem Sinn kannte. Sie ist so etwas wie ein historischer Tatsa­chenbeweis. Ja, diesen Jesus von Nazareth, den damals ja noch nicht alle Welt kannte, ihn und sein Schicksal hat es wirklich gegeben. Ort und Zeit sind bekannt. Die Sache mit Jesus ist keine Lügengeschichte! So wahr die Annalen des Imperiums ausweisen, wer den Kaiser Tiberius seinerzeit in Jerusalem repräsentiert hat: eben dieser Pontius Pilatus!

Gelitten: früher, als unsere Gemeinden in diesen Wochen noch regelmäßige Passions­an­dachten abhielten, ist dieses entsetzliche, aber in seiner Grausamkeit auch nicht einzig­artige Leiden jedes Jahr neu entfaltet worden. Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Christengemeinden rund um den Erdball tun das auch heute. Nur wir fürchten, unsere ohnehin überlasteten Pfarrer könnten bei diesen Terminen allein vor dem Altar stehen. Passionsandachten sind out.

Kreuzwege allerdings sind „in“, seit vielen Jahren schon. Sie sind ja die dramaturgisch-theatralische Darstellung dessen, was die vier Evangelien großenteils übereinstimmend, zum Teil aber auch voneinander abweichend über die letzte Woche im Leben Jesu von Nazareth bezeugen. Kreuzwege machen die Teilnehmenden zu Beteiligten und beziehen gleichzeitig Glaubens-Herausforderungen unserer Zeit in die Gestaltung mit ein. Und dann haben wir ja noch Oberammergau mit seinen inzwischen TV-gerechten Passions­spielen. Aus einem Pestgelübde im 17. Jahrhundert ist inzwischen ein globales Religionsspek­takel geworden, Rekordumsätze und jede Menge Rechtsstreit inklusive.

Fällt euch das auch auf? Unser Glaubensbekenntnis hält fest: „gelitten unter Pontius Pilatus“, aber keine Silbe aus der Bergpredigt, kein Hinweis auf die Speisung der 5.000; all die mächtigen Taten der Heilung, der vollmächtigen Vergebung; kein Wort vom Vaterunser – kurzum: rein gar nichts von dem die Menschenherzen aufwühlen­den öffentlichen Wirken des Rabbi Jesus, als wäre all das unwichtig, woran wir uns doch auf unserem Glaubensweg orientieren.

Aber das Verwunderliche beginnt ja schon in den Evangelien selbst. Das wohl älteste, das Markus-Evangelium hat 16 Kapitel. Und bereits im Kapitel 11 beginnt mit dem „Einzug in Jerusalem“ die Schilderung der allerletzten Lebenstage Jesu. Zehn Kapitel für wahrscheinlich gut 30 Lebensjahre davor; sechs Kapitel für einige wenige Tage am Ende. So wird der Lehrsatz verständlich, den man uns im Theologiestudium beigebracht hat: „Die Evangelien sind Passionsgeschichten mit ausführlicher Einleitung.“ Den Schwerpunkt in diesen Dokumenten, ohne die Jesus für uns kein Gesicht und keine Stimme hätte, muss man nicht lange suchen. Er liegt ganz am Ende.

Für die Wortführer der frühen Christenheit, die sich auf die damals vielleicht 200 Jahre alten Evangelien stützen, ist bei der Formulierung des Glaubensbekenntnisses klar, was Priorität haben muss. Nicht die „Frohe Botschaft“ Jesu, die sie natürlich in ihr Leben aufgenommen haben, so wie viele, die Jesus persönlich begegneten. Sie mussten in Worte fassen, was der schmähliche Tod des Geliebten bedeutete: nicht einen Trümmer­haufen zerstörter Hoffnung; sondern ein Opfer der Liebe, das das Herz Gottes über­windet. Anders konnte der Ostermorgen nicht heraufziehen.

„Gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben“, das sind Worte, mit denen unsere frühen Glaubensgeschwister paradoxerweise all das Kostbare und Ungesagte bewahren wollten, was sie mit Jesus verband. Verbunden mit ihm waren sie bis ins 4. Jahrhundert auch ganz unmittelbar durch den Schrecken des Wortes „gekreuzigt“. Erst in jener Zeit, als unser Glaubensbekenntnis seinen bleibenden Wortlaut erhielt, wurde diese Exekutionsart durch das nun offiziell christliche Kaisertum abgeschafft. Bis dahin haben Abertausende von Jesus-Jüngern denselben Tod erlitten, wie ihr Christus. Kreuzigung war die Liquidationsform für Staatsfeinde und Fremde ohne Bürgerrecht; für aufständische Sklaven; absichtlich grauenvoll; absichtlich öffentlich. Kreuzigen, das hieß nicht einfach eine Todesstrafe zu vollziehen, das hieß liquidieren auf schändlichste Art und Weise. Der Lanzenstoß in die Eingeweide, um den Eintritt des Todes zu kontrollieren, oft nach Tagen der Qual – er wird in der Golgatha-Überlieferung erwähnt – aber er war einfach ständige Dienstanweisung für die Wachkommandos.

Nachdem Kreuzigen aus der Terror-Mode gekommen ist, müssen wir schon die sadi­stischsten Mordmethoden zum Vergleich heranziehen, die Folterknechten in unserer Zeit beigebracht werden. Und das heißt – als Bekenntnis über die Lippen gebracht – unser Jesus hat nicht einfach in Erfüllung seiner Mission sein Leben geopfert, er ist auf die damals denkbar schändlichste Art umgebracht worden; Nachahmern zur Abschre­ckung. Das macht einen Unterschied, den Schmuckkreuzchen am Hals doch sehr verwischen.

Sein Kreuzestod kam vergleichsweise schnell, nach sechs Stunden. Nach Markus mit einem unartikulierten lauten Schrei, nach Johannes mit dem Siegesruf: „Es ist vollbracht!“. Und die römischen Amtspersonen bezeugen den wirklichen Tod eines wirklichen Menschen. Wenn auch nicht irgendeines Menschen. Der wachhabende Centurio ist in unseren Kreisen unsterblich geworden mit seinem Ausruf: „Wirklich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!“ „Gottes Sohn“, diesen Ausdruck größter Verehrung kannten nicht nur Juden. Der römische Offizier kann aber nur von der Vergangenheit sprechen. Die Grabkammer des Josef von Arimathäa ist ein erster oder ein letzter Liebesbeweis der Jüngerschaft – ganz wie man will. Oder ein untaugliches Gefängnis.