Heilige Nacht in Boomtown

1. Weihnachtsfeiertag, 25. Dezember 2011

Maria behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.

(Lukas 2, 19)

Weihnachten: brauchen wir das heute noch, um Christinnen und Christen zu sein? Christen-Weihnachten: ist dafür überhaupt noch Platz? Damit wir uns richtig verstehen: für mich ist das keine von diesen Fragen, die man als Redner stellt, um sie dann selbstverständlich im Sinn des Althergebrachten zu beantworten. Ein Kunstgriff, um Dampf abzulassen, damit der alte Kurs beibehalten werden kann. Nein, wie ich hier rede, so geht es mir wirklich; einem alten Mann, der Weihnachtsgottesdienste erlebt und später mitgestaltet hat, soweit die Erinnerung zurückreicht. Also: ist unser Glaube auf Weihnachten angewiesen? Eine Minderheit der Magdeburger mit größerem Sicherheitsabstand zu den Kirchen war in einer Straßenumfrage zwar der Überzeugung, die Christen feierten Weihnachten die Auferstehung Jesu. Aber dafür haben wir ja Ostern – mit deutlich weniger gefüllten Gottesdiensten als am Heiligabend. Also auf den Punkt gebracht: geht christlicher Glaube auch ohne die alljährliche Geburtstagsfeier für Jesus?

Die Menschen, die dem erwachsenen Jesus von Nazareth seinerzeit begegnet sind, hätten die Frage nicht verstanden. Das Volk kannte ihn allenfalls als den Sohn eines Josefs. Aber nicht ein einziger dieser Kranken, dieser Außenseiter, dieser Neugierigen, dieser Gott Suchenden, dieser Verzweifelten, dieser leidenschaftlichen frommen Gegner kannte die Geschichten, die in unsere Krippenspiele eingegangen sind. Glaube, Liebe und Feindschaft, alles war möglich ohne einen Hauch von Weihnachten. So wahr das Markus-Evangelium das älteste der vier Zeugnisse vom Erdenweg Jesu ist, am nächsten dran an denen, die mit Jesus gelebt haben, direkt an der Quelle sozusagen: es enthält nicht einen Satz über Jesu Geburt und Kindheit. Und es wirbt trotzdem mit jedem Satz um Vertrauen zu diesem Jesus von Nazareth. Die Proportionen des Markusevangeliums haben einen wichtigen Merksatz inspiriert: „Die Evangelien sind eigentlich Passionsgeschichten mit ausführlicher Einleitung.“

Jesus, der Gekreuzigte und Auferstandene, das ist, um absichtlich einen aktuellen Begriff aus der Wirtschaft zu bemühen, der „Markenkern des christlichen Glaubens“. Was die Evangelisten Matthäus und vor allem Lukas an Kindheitsgeschichten sammeln und hinzufügen, ist eine von uns heiß geliebte Ergänzung, aber eben eine Ergänzung. Das weihnachtliche Sondergut mit Kaiser Augustus, Heiliger Familie, Krippe, Engelchören, Hirten und Weisen, was ist dann davon zu halten? Zunächst einmal: kein Tatort-Kommissar entscheidet darüber, ob diese Geschichten wahr sind oder nicht. Das tut unser Herz, so wie es oft entscheidet über den Wahrheitsgehalt eines wegweisenden Traumes, einer Sinn-Geschichte, einer Liebeserklärung. Weder so noch so können die Leute von der Historiker-Spusi den biblischen Weihnachtsüberlieferungen mit ihren Befunden etwas zugestehen oder wegnehmen.

Wenn das feststeht, bleibt trotzdem die Frage: können wir diese Extras, dieses biblische Bonus-Material über das Kleinkind Jesus angesichts des Chaos unserer Weihnachtszeiten heute wirklich gebrauchen? Geht da überhaupt noch was, wenn das großartige Glaubenslied „Vom Himmel hoch“, der Geburtsgeschichte entnommen, in Endlosschleife das Weihnachtsgeschäft beschallt; wenn Umsatzzahlen längst zur einzigen öffentlichen Freudenbotschaft geworden sind? Ist die feindliche Übernahme der bibelnahen Weihnachtsfrömmigkeit durch den Mammon und die Event-Industrie inzwischen unumkehrbar? Was soll ich etwa im Weihnachtsgeschäft mit dieser geradezu geschäftsschädigenden Maria anfangen, deren energische Stimme Sätze wie diese in die Welt ruft: „Meine Seele erhebt den Herrn. Denn er stößt die Gewaltigen vom Stuhl und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer.“ Oder auch mit der anderen Maria, von der wir in der Geburtsgeschichte hören: „Sie behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.“ Eine laute Stimme oder ein bewegtes Herz, für keins von beiden scheint noch Platz zu sein. Beides scheint dem hemmungslosen Missbrauch preisgegeben.

Je kostbarer, je einladender und geheimnisvoller zugleich mir dieses biblische Bonusmaterial zu Weihnachten erscheint – nach dem Motto „Eine andere Welt ist möglich; Gott macht sie möglich“- umso stärker erlebe ich die Notwendigkeit zur Verweigerung. Käufliche Weihnachtsfreuden unter Erwachsenen? Nein danke, schon seit vielen Jahren. Das schont nicht nur das Nervenkostüm, das macht einen nicht nur wieder zum Briefschreiber, das tut vor allem meinem Glauben gut. Aber ich brauche mehr. Ich möchte teilnehmen, mit Herz und Verstand, an diesem Prozess der Aneignung, der so alt ist wie die Kirche Jesu auf Erden. Jede christliche Generation in jeder Gesellschaft hat immer aufs Neue versucht, dieses Bild von der Menschwerdung der Liebe Gottes in ihre Welt und ihre Zeit zu holen – sich diesen Schuh anzuziehen, wie wir flapsig sagen. Ja ich bin überzeugt: schon die Weihnachtserzählungen im Neuen Testament selbst sind Urkunden dieses Glaubens. Was sie mit Jesus erleben, die Jüngerinnen und Jünger, das war zurückblickend von Anfang an da. Gott hat es so gewollt. Der Gott, der seine Ehre darin sucht, dass sein Wille geschieht auf Erden; der Gott, der Menschen friedensfähig macht.

Bethlehem wie immer. „Alle Jahre wieder“. Bethlehem zugleich immer neu, damit die Welt unserer Kinder nicht ohne Hoffnung dasteht. So gehen mir gewöhnungsbedürftige und zugleich herausfordernde Sätze durch den Kopf:

Es geschah, dass eine Richtlinie von den Herren des Geldes ausging, dass jeder Arbeitnehmer dort zu erscheinen hatte, wo er den größten Profit abwirft. Da machte sich auch Josef auf und kam nach Boomtown, weil er seine Arbeitskraft verkaufen musste. Und Maria legte ihr Kind in eine Apfelsinenkiste, denn sie fanden sonst keinen Platz in dem Abbruchhaus. Und da waren Wachmänner im Industriegelände, die drehten des Nachts ihre Runden. Und die Boten Gottes fanden auch 2011 Mittel und Wege, diesen Nachtschichtlern zu sagen, dass Gott sie in sein Herz geschlossen hatte. Und die Wachmänner liefen los und überzeugten sich in dem Abbruchhaus, dass sie nicht halluziniert hatten. Und die drei Nobelpreisträger kamen später auch noch und schenkten dem Kind eine Krankenversicherung, eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis und einen Schutzengel. Und Maria bewegte all ihre Erlebnisse in ihrem Herzen und erkannte, dass wir die Welt nicht aufgeben dürfen, solange Gott sie nicht aufgibt. Und – nicht zuletzt – Josef bekam rechtzeitig im Traum einen Tipp von Gott. Er verließ das Abbruchhaus mit Frau und Kind rechtzeitig, bevor die fremdenfeindliche Schlägerbande kam.

Dass wir uns richtig verstehen: ich liebe die Worte der biblischen Weihnachtsgeschichte. Und kann sie auswendig, wie Viele von euch, die sie vielleicht Jahr für Jahr in ihren Familien aufgesagt haben. Aber ich wünsche mir von Gott das Weihnachtsgeschenk, dass die Geschichte von neuem geschieht in unseren Herzen; dass sie in unsere Zeit eingeht und in ihre Hoffnungslosigkeiten und Ungerechtigkeiten, dass sie ihren Unfrieden durchbricht. Mit Weihnachten ist das wie mit einem Foto: wenn es vollkommen ist, kann es eine ganze Liebesgeschichte einfangen – für immer. Es wäre wunderbar, dieses Bild der Gottesliebe wiederzufinden unter all dem Müll, den wir darauf geschüttet haben.