Solange die Erde steht – Gott besinnt sich eines Besseren

Erntedankfest, 4. Oktober 2009

So ging Noah heraus mit seinen Söhnen und mit seiner Frau und den Frauen seiner Söhne, dazu alle wilden Tiere, alles Vieh, alle Vögel und alles Gewürm, das auf Erden kriecht; das ging aus der Arche, ein jedes mit seinesgleichen. Noah aber baute dem HERRN einen Altar und nahm von allem reinen Vieh und von allen reinen Vögeln und opferte Brandopfer auf dem Altar. Und der HERR roch den lieblichen Geruch und sprach in seinem Herzen: Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.

(Genesis 8, 18-22)

Unser Gott besinnt sich eines Besseren. Er kann es, er will es, er tut es, unwiderruflich. Und von dieser Sinnesänderung leben wir, lebt die ganze Schöpfung. Das ist die Botschaft dieser von Versöhnung geprägten Schlussszene der Überlieferung von der großen Flut. Was vorherging, ist entsetzlich genug. Aus enttäuschter Liebe hat Gott beinahe vollständig umgebracht, die er ins Leben gerufen hatte, Menschen und ihre Mitgeschöpfe. Dieser Täter ist nicht zu verwechseln mit einem kindlichen Ingenieur, der die Sandburg am Strand wieder einreißt, weil sie doch nicht so toll geworden ist. Nein, im menschlichen Rechtswesen nennen wir das Mord. Die „Menschen vertilgen wollen von der Erde“, wie Gottes Gedanken vor der Sintflut im Bibeltext zitiert werden, das ist das Hemmungsloseste, das Böseste, was sich denken lässt, wenn wir diesen Vorsatz einmal ablösen von dem Namen Gottes. Töten wollen um jeden Preis, das ist der schlimmste Wahn, der Gewaltherrscher auf Erden befallen kann. Psychiater sagen Hitler diesen Wahn nach. Und auch der hatte eine Begründung für seine Mordtaten zur Hand: unwertes Leben von Behinderten, die Juden, das Krebsgeschwür der Menschheit. Am Ende 1945, das ganze deutsche Volk, das versagt haben sollte in einem wahnhaften Kampf um Vorherrschaft auf Erden.

Nein, vor diesem Gott, der die Sintflut will und hereinbrechen lässt, vor dem erschrecke ich zu Tode. Gleichzeitig fällt mir ein, was man auf der Polizeischule lernt: nicht Hass, sondern enttäuschte heiße Liebe ist das häufigste Mordmotiv. Auch deshalb ist die Mord-Aufklärungsquote so hoch. Gott, der in seiner Liebe enttäuschte Mörder, anders kann man es kaum nennen. Der schreckliche Gott, der eine Ausnahme macht, zu der der Hassmörder Hitler nie fähig gewesen wäre: Noah mit seinen Leuten in der Arche, von der es heißt, Gott selber habe sie sicher verschlossen, er wird verschont. Noah ist für Gott unentbehrlich – als Partner seiner Umkehr, der Umkehr Gottes zum Leben. Ich sollte in das gewaltige Gleichnis der Sintflutgeschichte nicht zu viele Einzeldeutungen hineinlegen. Aber ich frage mich schon, wie jemand, der Zeuge des fast vollständigen Untergangs geworden ist, unmittelbar danach einen Opfergottesdienst feiern kann, als ob sein Glaube von dem Erlebten nicht bis in die Grundfesten erschüttert worden wäre. Aber Noah hat die Kraft, diesen todbringenden Gott anzurufen, ein einzelner Mensch, ein überlebender Adam. Er vermag nach wie vor „Ja“ und „Du“ zu diesem Gott zu sagen. In beider Herzen vermögen wir nicht hineinzusehen, weder in das Herz Noahs noch in das Gottes. Aber der Wortlaut der biblischen Überlieferung drängt zu der Feststellung, dass der Mensch im Herzen Gottes etwas bewegt. Ja, Gott hat ein Herz, das sich bewegen lässt.

Für unsere muslimischen Landsleute schlecht erträglich. Gott reagiert auf Noahs Opfergabe mit seinen Sinnen, sinnlich. „Und der Herr roch den lieblichen Geruch und sprach in seinem Herzen…“ Gott, ich sage es rund heraus, lässt sich herumkriegen – über die Nase. Für unser Empfinden noch ein Stück sinnlicher, als wenn von Gottes Auge oder Ohr die Rede wäre. Nach den Regeln der Kommunikation, die die Werbung beherzigt, heißt das: Gott ist gefangen durch einen Sinnesreiz. Er muss angemessen reagieren auf die vorbehaltlose Zuwendung des neuen Adam. Und deshalb antwortet er mit einer Selbstreflexion – und dann mit der Proklamation seiner Sinnesänderung, seiner Umkehr zum Leben. Selbstreflexion: Ja, der Mensch ist, wie er ist, böse von Jugend auf. Und dann, grandios unlogisch: Ich will ihn künftig völlig anders behandeln „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ Dieser vorbehaltlose Satz, ohne jede Hintertür: er ist der Grundlagenvertrag, auf den sich die Erntedankfeste der Kirchen in allen Erdteilen und Klimazonen stützen.

In diesen Wochen vor der Weltklimakonferenz in Kopenhagen, der wichtigsten internationalen Konferenz seit Menschengedenken möchte ich ihn die Magna Charta, die gottgegebene Magna Charta für das Weltklima nennen. Nicht für irgendein Klima, sondern für Klimaverhältnisse, die Säen und Ernten in den so verschiedenen Zonen der Erde auch künftig möglich machen. Saat und Ernte, gestützt auf die Klima-Kreisläufe, sollen nicht aufhören; diese Zusage gilt eben nicht nur im EU-Europa, wo wir bisher vergleichsweise wenig von drohendem Nahrungsmangel spüren. Sie gilt auch in den Dürreregionen Kenias und des Sudans (Hinweis auf ausliegende Prospekte von „Brot für die Welt“), sie gilt dort, wo nie gekannte Fluten das Leben ersäufen, vorgestern in Istanbul, gestern in Westafrika, heute in Manila oder an den Stränden des fernen Samoa. Eine Adressenliste der Klima-Desaster, die ständig länger wird.

Wer an dieser ökumenischen, weltweiten Geltung der Zusagen des reuigen Schöpfers zweifelt, erinnere sich des Glaubensbekenntnisses, das wir vorhin wie in jedem Gottesdienst gesprochen haben: „Ich glaube an die heilige christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen.“ Wobei (ich denke, das wissen wir) mit den „Heiligen“ nicht Petrus in Rom oder Elisabeth in Thüringen gemeint sind, sondern wir alle, die wir Gott nahe sind, weil wir Christi Namen tragen. Die Gemeinschaft der Heiligen, wahrhaft klassenlos, für Gott ohne Unterschied Anlass zu Freude und Fürsorge. Da ist es nur logisch, dass wir Christenmenschen an die Seite derer gehören, die weltweit für Vernunft und Gerechtigkeit beim Umgang mit den gewaltigen Gefahren des Klimawandels einstehen. Und nur damit wir uns nicht falsch verstehen: die Magna Charta des Schöpfers für das Weltklima gilt auch dort, wo man Christenmenschen unter Millionen anders Glaubender mit der Lupe suchen kann, sagen wir mal in Pakistan, Bangladesch oder in großen Teilen von Deutschland.

Gottes Grundlagenvertrag für die Ernten der Menschheit, sein Versprechen, dass wir Menschen überall auf Erden bei der Aussaat auf die Ernte hoffen dürfen, solange wir die Klima-Tatsachen in Rechnung stellen, bewahrt uns vor Fatalismus oder Verderben bringendem Egoismus: „Nun ja, da ist wohl was im Anzug, aber so schlimm wird’s schon nicht werden. Und wenn doch, wir hier werden uns wahrscheinlich am längsten halten können. Und wenn am Ende alles nichts hilft, müssen wir uns die anderen irgendwie vom Leibe halten. Krieg fürs Überleben, das muss doch erlaubt sein.“ Was wäre das anderes als ein Drehbuch für die zweite Flut, diesmal (zum Entsetzen Gottes, der sich längst eines Besseren besonnen hat) von uns Menschen gemacht. Kein science fiction, sondern ohne weiteres möglich. Wir müssen nur weitermachen wie bisher, sonst nichts. Vier Grad globaler Temperaturanstieg und mehr sind ohne weiteres drin, Kollaps der Atmosphäre, Wasser- und Windkreisläufe außer Kontrolle, gigantische Verluste an Ackerflächen, Land unter für Hunderte von Millionen, globale Flüchtlingsströme.

Alles möglich. Aber alles nicht zwangsläufig, schicksalhaft. Gott selbst lebt uns vor, was nottut, ohne Verzug: Umkehr zum Leben. Ich höre an diesem Erntedankfest den Ruf Gottes an uns: Tut es mir gleich. Kehrt um zum Leben, jetzt. Von einem Tag, von einer Stunde zur anderen – wie ich, als Noah mir von neuem sein Vertrauen schenkte, so dass ich ihm nicht widerstehen konnte. Was hieße das, dieses In-Gottes-Fußstapfen-Treten? So wie Gott selbst es tat, uns eingestehen, was ist, uns eingestehen, wie wir sind, unser Herz. Ja, wir versuchen zu haben, mehr als wir brauchen; zu leben hinter den Mauern unserer Interessen, Bequemlichkeiten, Gewohnheiten und Vorurteile. Eigentlich ist unser Herz unfähig, über den engen Kreis unseres Lebens hinaus zu fühlen und Verantwortung zu übernehmen.

Aber wir kennen Jesus, die Lebensregeln seiner Bergpredigt. Und darum soll für uns gelten, was wir eigentlich gar nicht wollen und nicht praktizieren: Das tägliche Brot unserer Nächsten, nah und fern, wird uns genauso wichtig sein wie unser eigenes. Wir werden trügerischen Versprechen nicht folgen, die zu Lasten von Brot und Leben unserer fernen Nächsten gehen. Nur ein Beispiel: diese Fata Morgana, dass Agrartreibstoffe unser Quasi-Menschenrecht auf ein Privatauto garantieren werden. Wir werden uns bemühen zu verstehen, was künftig in unserer Wirtschaft noch wachsen darf und wachsen soll – und was auf keinen Fall. Auch wenn wir alt sind: wir werden unser Denken, Fühlen und Handeln auf die Zukunft richten, solange wir leben – wie Jesus, dem das anbrechende Reich Gottes und seine Gerechtigkeit über alles ging. Denn Gottes Liebe zum Leben reicht über die Grenzen unserer Erdenjahre hinaus. Das Jahr 2050 ist ein Ding meines Glaubens – auch wenn ich es mit Gewissheit nach Menschenart nicht erleben werde.

Womit wir am Erntedankfest 2009 wieder beim Klima wären, dem zur Zukunft fähigen Umgang mit seinem Wandel. Unser Gott hat sich einst eines Besseren besonnen. Deshalb leben wir – wir und unsere Mitmenschen in anderen Klimazonen der Erde. Jesu Gebetsanleitung „Unser täglich Brot gib uns heute“, uns allen, nicht allein mir – sie ist der Ruf, die Einladung, dass auch wir uns eines Besseren besinnen. Zum Wohl der Menschen, die 2050 vielleicht in diesem Raum und in aller Herren Länder Erntedank feiern wollen.