Vergebung der Sünden

Apostolisches Glaubensbekenntnis (12)

15.06.2014

Vergebung der Sünden“

Ich erinnere mich: es war eine der ersten theologischen Streitigkeiten, die sich in meinem Kopf abgespielt haben. Ich muss so um die zehn gewesen sein. Im Kinder­gottesdienst war die „Heilung des Gichtbrüchigen“ dran, wie diese Jesusgeschichte im evangelischen Umgangsdeutsch damals hieß. Jener Gelähmte, der heute kaum noch die Diagnose „Gicht“ bekommen würde. Schließlich ist das eine klassische Krankheit der Reichen. Aber die Story hat ja was. Sie ist „action-fähig“.

Wenn einer was für unseren Freund tun kann, dann dieser Jesus, der gerade am Ort ist. Davon sind die vier Kumpels überzeugt. Für dieses Ziel arbeiten sie, bis zur er­heb­lichen Sachbeschädigung. Über die Handwerkerrechnung für die Reparatur des Flachdaches reden wir später. Und so senkt sich die Trage mit dem gelähmten Freund tatsächlich von oben herab neben den eingekeilten Rabbi Jesus. Toll! Und der, mit seiner Sensibilität für Liebe und Vertrauen, reagiert weniger auf den Behinderten als auf seine Kumpels. Als Jesus ihr Vertrauen sah – man hätte ja Tatort-Fotos machen können – wendet er sich dem Gelähmten zu.

Klar, was ein auf Jesus-Power geeichter Zehnjähriger jetzt erwartet: ein Heilungswort mit sofortiger Wirkung. Stattdessen erzählt die Katechetin, Jesus habe gesagt. „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!“ Wie bitte? Ist das nicht etwa so, wie wenn man einen Hosenknopf in die Kollekte wirft? Und erst, nachdem Jesus spürt, dass anwesende Theologen innerlich in Wallung geraten, weil sie Sündenvergebung für ein Privileg Gottes halten, nutzt Jesus die Heilung sozusagen als Mittel zum Zweck. Weil ein Heilungsbefehl nicht einfach über die Lippen gehen kann, ohne dass die Menschen seine Wirkungskraft oder Wirkungslosigkeit sofort sehen können, folgt erst jetzt das Heilungswort: „Steh auf; nimm deine Liege und geh nach Hause.“

Die Rettung eines Menschen aus dem Siechtum scheint nicht um ihrer selbst willen, um dieses Menschen willen zu geschehen. Jesus will „nur“ klar machen, dass er das Recht zu viel Größerem hat, dazu, Sünden zu vergeben. Er darf das. Menschen dürfen das. Nichts ist es mit dem exklusiven Vorrecht Gottes, verwaltet durch die Sühnepraxis der Priesterschaft Israels und aller Religionen.

So bin ich im Kindergottesdienst mit der Nase auf das eigentliche „Kerngeschäft“ Jesu gestoßen worden. Mein Held ist nicht einfach der unschlagbare und allzeit bereite Helfer. Dieser Mensch will zuerst und vor allem Sünden vergeben. Merkt euch das, ihr Jungen und Mädchen! Der Gelähmte profitiert davon für sein ganzes weiteres Leben. Aber die Geschenke, die Jesus ihm im Namen Gottes an diesem Tag macht, haben eine eindeutige Gewichtung. Sündenvergebung vor körperlicher Heilung!

Vom „Kerngeschäft“ Jesu zu sprechen, kann nicht ganz falsch sein. Keine andere Tätig­keit, kein anderer Auftrag Jesu hat es in unser Glaubensbekenntnis geschafft. Nicht Liebe üben, nicht Gerechtigkeit praktizieren, nicht Frieden stiften – nur dies eine „Ich glaube an… die Vergebung der Sünden.“ Und wer sich nur ein bisschen in den Ursprungsgeschichten der Christenheit auskennt, dem fallen sofort die Sendungsworte des Auferstandenen an die ersten Jesus-Leute ein: „Nehmt hin den Heiligen Geist. Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben! Und wem ihr sie noch nicht vergebt, dem sind sie noch nicht vergeben!“ Das Kerngeschäft Jesu ist zum Kerngeschäft der Kirche geworden. Vergeben, nicht mehr daran denken müssen, wie dieser Vorgang im Alten Testament einmal auf Gott selbst bezogen beschrieben wird. Vergeben, oder auch noch nicht vergeben.

Letzteres war oft die von Gott gewollte Rolle der Prophetinnen und Propheten, weniger bei hilflosen unbußfertigen „Sünderlein“, als bei denen, die Gottes Recht und Gesetz wissentlich und willkürlich brachen zu Lasten der Schwachen. Sünden noch nicht vergeben, hartnäckig beim Namen nennen, das kann ein sehr dünnes Eis sein, für die, die sich darauf bewegen. Mancher Gewaltmensch hat feine Ohren für die Mitteilung: „Noch nicht vergeben.“

Sünden vergeben, unser Kerngeschäft! Wenn das klar ist, bleibt die schwergewichtige Frage, ob wir denn überhaupt noch ein Kerngeschäft betreiben, das sich lohnt. Wenn nicht, dann gehören wir ja wirklich zum alten Eisen. Dabei ist das Wort „Sünde“ in der Alltagssprache ja ziemlich abgerutscht in die Nähe der Lächerlichkeit. Wir sündi­gen im Café mit dem Klacks Sahne auf der Obsttorte. Plastiktüten und Einweg­fla­schen werden zu Umweltsünden, die außer meiner Frau und ihresgleichen kaum jemand ernst nimmt. Wichtiger: mit einem konkreten Menschen über seine Sünde zu sprechen, erfüllt nach Meinung sehr vieler Zeitgenossen nahezu den Tatbestand seelischer Nötigung, wenn nicht Vergewaltigung. Die Sünde hat ein miserables Image, zwischen lächerlich und bedrohlich.

Dazu passt das Witzchen. Vater fragt den Konfirmanden Fritz nach der Predigt, die er abhören musste. „Ooch, der Pastor hat über die Sünde gepredigt.“ – „Was hat er denn gesagt?“ – „Er war dagegen.“ Gerade noch der Pastor – und die Sünde sein letzter Strohhalm!

Woran liegt´s? Gewiss in erster Linie daran, dass die Aura des deutschen Wortes Sünde aus einer Zeit stammt, als Sünde und Strafe, Strafe Gottes wohlgemerkt, eine Einheit bildeten. Die Entdeckung der bedingungslosen Gnade Gottes durch das Bibelstudium der Reformatoren hat diese wirklich angstmachende Zwangsläufig­keit von Sünde und Strafe aufgebrochen. Hölle und Fegefeuer gehören nur noch zur Kulisse von Horrorfilmen. Bange machen gilt nicht mehr. Gott sei Dank!

Darum müssen wir auch nicht länger von der Sünde mit ihren Rattenschwanz von Strafen reden. Umso mehr ist Schuld, schuldig geworden sein, von Schuld frei werden, ein Lebensthema jedes Menschen, der den Blick in den Spiegel aushält. Wer´s nicht glauben mag: Schuld, die Frage danach schafft Aberzehntausende von Arbeitsplätzen in den Beratungsberufen – ohne dass mit dieser Beobachtung eine Antwort vorweg genommen wäre. Schuld klebt nicht zusammen mit der Vorstellung von Gottesstrafen. Aber sie weckt das Bewusstsein für verlorenen Sinn und die Sehnsucht, ihn wieder zu gewinnen.

Es ist nur ein Wort unserer deutschen Sprache. Aber sein Austausch, gemäß unserer Lebenserfahrung, bringt mich wieder ganz nahe an das Kerngeschäft Jesu heran. Schuld vergeben, auch wenn es nicht darum geht, irgend eine jenseitige Hölle zu vermeiden, sondern diesseits Lebensmut und Lebenssinn wieder zu gewinnen, das ist Kerngeschäft der Christenheit. Das meine ich, wenn ich die Worte des alten Weltbildes nachspreche: „Vergebung der Sünden.“ Sicherheit bei diesem Wortwech­sel gibt mir Jesu eigene Wortwahl im Vaterunser: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldnern.“

Schuld vergeben, wie das funktioniert, lässt sich in den Jesusgeschichten wunderbar studieren. Z.B. durch überraschende Hausbesuche. Wie bei dem Ausbeuter Zachäus, der hinterher nicht wiederzuerkennen ist. Durch den Maßstab der Wahrheit, wie bei dem Open-Air-Tribunal gegen die sog. Ehebrecherin: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“ Generell durch die Inanspruchnahme dieses ganz beson­deren Bonus für die, auf deren Leben eine schwere Last liegt. „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken.“ Schuld vergeben, bis zum Schluss. „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein“, lauten die Worte, die zu dem Mann am Kreuz neben Jesus dringen.

Schuld vergeben, das ist wirklich die Sprache unserer Zeit. Eine Silbe angehängt, und wir sind bei den Schulden, privaten, wie denen der Gemeinwesen. Wer ist schuld daran, dass sich Schulden in unvorstellbarer Höhe aufgehäuft haben? Etwa auch wir selbst? Lassen wir im Moment die Politik beiseite. Halten wir im Moment nur die Tatsache fest, dass Schulden handlungsunfähig machen. Das haben sie mit Schuld gemeinsam. Darum ist Sünde alias Schuld zu vergeben wirklich das Kerngeschäft Jesu und seiner Leute.

Denn blockierte Herzen können so gut wie nichts von dem in die Welt setzen, was die Welt doch so dringend braucht, was unser Gott ihr auch schenken möchte. Ver­gebung fängt an bei mir selbst. Sie macht mich von neuem handlungsfähig, und dich ebenso.

Das ist der „Modus“, modern gesprochen, in dem wir nützliche, ja segensreiche Kirche sein können, in Diesdorf und überall. Gerechtigkeit, Friede, Bewahrung der Schöpfung? Glaube, Liebe, Hoffnung? Alles ist möglich, weil die Schuld vergeben wird, den anderen – und uns selbst.