Aller Augen warten auf dich

Laetare, 2. März 2008


Aller Augen warten auf dich,
dass du ihnen Speise gebest zur rechten Zeit.
Wenn du ihnen gibst, so sammeln sie;
wenn du deine Hand auftust,
so werden sie mit Gutem gesättigt.

(Psalm 104, 27-28)

Zu gerne hätte ich das uralte Rechenbuch noch zur Hand; es steckte in meinem Schulranzen auf dem Weg in die Dorfschule von Roxel, 1948. Denn hinten, daran erinnere ich mich ganz genau, waren Lebensmittelpreise abgedruckt. Diese Tabelle mussten wir auswendig lernen. Sie war die Grundlage für allerlei Kopfrechenübungen. Die Mutter schickt dich einkaufen. Du holst ½ Pfund Zucker, 6 Eier, 1 Pfund Salz und 8 Brötchen. Mutter gibt Dir 2 Mark mit. Wie viel Wechselgeld bringst Du wieder mit nach Hause? Die 8 Brötchen schlugen in der Rechnung mit 24 Pfennig zu Buche. Denn ein Brötchen stand in der Tabelle mit 3 Pfennig verzeichnet. Wie lange dieser Preis stabil geblieben ist, weiß ich nicht. Aber als älterer Schüler und sich selbst verpflegender Student hatte ich jahrelang einen Brötchenpreis von 5 Pfennig im Kopf.

Diese Brötchen hier habe ich am 2. März 2008 um 9.00 morgens auf dem Weg zum Gottesdienst gekauft. Ich werde sie nachher im Zug essen, weil ich zur Mittagszeit unterwegs bin. Stückpreis 30 €-Cent. Rein rechnerisch macht das gegenüber dem Herbst 1948 (die Währungsumstellung des Jahres 2000 mitgerechnet) eine Teuerungsrate von 1200% aus. So platt gesagt ist das natürlich Unsinn. Denn entscheidend für das Ergehen von Menschen ist nicht, wieviel das Brot kostet. Entscheidend ist, wieviel von ihrem Einkommen die Menschen für ihre Nahrung ausgeben müssen. Wirklich arm dran sind Leute, die praktisch alles, was sie haben, in Nahrungsmittel und Trinkwasser investieren müssen – wobei das Wort „investieren“ da zum Hohn wird. Denn für diese Menschen werden Kleidung, Schulbücher, Medikamente, ein Fahrrad zu unerschwinglichen Gütern. Wenn ich es als Zugezogener richtig verstanden habe, war das Brot nach dem politischen Willen der DDR-Führung extrem billig. Es ist schließlich in unserer Kultur das elementarste aller Lebensmittel. Für alle, die unangefochten herrschen wollen, ist es wichtig, dass ein Volk nicht mal im Traum daran denkt, das Brot könnte knapp werden.

Mein Westdeutschland nach der Währungsreform und Eure DDR sind Geschichte. Trotzdem ist Brot und was es kostet, ganz aktuell zu einer Herausforderung für die christliche Gemeinde in der Fastenzeit 2008 geworden. Fastenzeit, wie die katholischen Glaubensgeschwister sagen, ist eine Zeit für das Wesentliche. Das, was ablenkt und ablenken soll, soweit es geht, reduzieren; genauer hinsehen, hinhören, was Weg und Wille unseres Gottes sind. In Sachen Brot gibt der enthusiastische 104. Psalm eine unmissverständliche Antwort, die wir sogar als Tischgebet benutzen:

Aller Augen warten auf dich, dass du ihnen Speise gebest zur rechten Zeit. Wenn du ihnen gibst, so sammeln sie; wenn du deine Hand auftust, so werden sie mit Gutem gesättigt.

Eine Zusage ohne Vorbehalt. Eine Zusage, die Jesus besiegelt. Eine Zusage, die bis heute Bestand hat. Eine Zusage, die bestätigt wird durch alles, was wir wissenschaftlich sagen können über Ernährungssicherheit und Ernährungsgerechtigkeit. Wenn es nach unserem Gott geht, wenn es nach dem Auftrag Jesu an vielleicht zwei Milliarden Christinnen und Christen geht, dann sollen und müssen niemandes Augen vergeblich Ausschau halten nach dem Gott, der ihnen das Lebensnotwendige zuteil werden lässt.

Genau diese Zusage steht in der Fastenzeit 2008 in Frage, so offensichtlich wie seit langem nicht mehr. In den letzten Monaten war viel davon die Rede, dass sich der Brotkorb für die Armen in unserer Nachbarschaft verteuert hat. 20% Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln sind für Hartz IV-Abhängige natürlich eine völlig andere Angelegenheit als für mich und meine Frau. Unsere Kirche darf den Regierenden in dieser handfesten Gerechtigkeitsfrage keine Ruhe lassen. Aber die bohrenden Sorgen mancher alleinerziehenden Mutter sind nur die sprichwörtliche Spitze des Eisberges. Rasanter, als bisher erwartet, ändert sich nicht nur das Klima. Rasanter, als bisher erwartet, verschlechtern sich die Aussichten der ärmsten Milliarde Mitmenschen, noch irgendwie an ausreichende Nahrung zu kommen. Allein in dieser Woche sind die Weizenpreise an der wichtigsten Getreidebörse der Welt, in Minneapolis/USA um 20% gestiegen. Die Gründe im Telegrammstil: verstärkte Fleischnachfrage weltweit. Rindvieh frisst Getreide. Geringere Erträge durch Klimawandel. Und vor allem: Amerikaner, Deutsche, Japaner und ihresgleichen wollen im Zeitalter langsam versiegender Ölquellen weiter durch die Gegend „brettern“ wie bisher. „Biosprit“ aus Getreide, Mais, Soja, Palmöl verspricht deshalb bessere Geschäfte als Brot für Hungernde. Das wichtigste einzelne Nothilfe-Programm der Welt, das des Ernährungsprogramms der UNO, steht kurzfristig vor dem Zusammenbruch. Ungefähr so viele Menschen, wie es Deutsche gibt, sind in Flüchtlingslagern, Katastrophengebieten und in Gebieten extremer Armut auf die Hilfen dieses Programms angewiesen. Das Programm steht wegen der Preissteigerungen der jüngsten Vergangenheit vor der schauderhaften Wahl, entweder die Portionen oder die Zahl der betreuten Menschen zu halbieren.

Den Tatsachen ins Auge zu sehen, ist eine Übung der Fastenzeit. Und sich dann zu fragen: was würde Jesus dazu sagen? Direkter: was sagt Jesus dazu? Aber machen wir uns klar, was wir tun, wenn wir Jesus fragen! Normalerweise ziehen wir bei schwierigen Entscheidungsfragen ja Experten vor, die den Ruf der angeblichen Unparteilichkeit genießen. Was ist ein gerechter Lohn? Hat es da Zweck, nurden Gewerkschafter oder nurden Unternehmer zu fragen? Woher soll der Strom kommen? Frage ich den Windmüller oder den Atomkraftwerkbetreiber? Die sind doch alle beide nicht unparteilich. Parteilichkeit gilt als negative Eigenschaft. Das muss wissen, wer Jesus fragt. Denn Jesus ist parteilich. Das lässt sich nicht wegdiskutieren. Wenn er den Armen die Frohe Botschaft verkündigt, ist Gottes Reich im Anbruch. Das sagt er selbst in der ersten Predigt, von der der Evangelist Lukas berichtet. Und behaupte keiner, das sei geistlich, symbolisch, bildhaft gemeint. Wenn Gefangene freigelassen werden, Behinderte geheilt werden und Aussätzige wieder Aufnahme finden in der Gemeinschaft, dann sind das handfeste Ereignisse, die sich wie Lauffeuer herumsprechen. Und genau diese Beispiele erwähnt Jesus in derselben Predigt in Nazareth.

Diese Parteilichkeit ist nicht der geringste Grund, der Jesus auf den Weg des Leidens und ans Kreuz geführt hat. Und buchstäblich jeden Tag folgen ihm Christinnen und Christen irgendwo auf der Welt auf diesem Weg. Wie viele Frauen und Männer aus Organisationen in den Partnerkirchen der Kirchenprovinz Sachsen, von Mission und „Brot für die Welt“ sind schon erschlagen in Straßengräben gefunden worden oder sonst jämmerlich zugrunde gegangen, weil sie das tägliche Brot eingefordert haben, das nach Gottes Willen allen Menschenkindern zusteht? Tägliches Brot in Gestalt eines Stückes Land; des Rechts, eine Gewerkschaft zu gründen; des Anspruchs auf einen Erlös für die Ernte, von dem sich leben lässt. Der Welternährungsmarkt in der Hand weniger riesiger Weltunternehmen, mächtiger als Staaten, verspricht Mammon und Macht in ungeahnter Größenordnung.

Wo ich bin, da sollen meine Jünger auch sein, bestimmt Jesus. Jesus steht ohne Zweifel auf Seiten derer, denen das Gottesrecht auf das Tägliche Brot verweigert wird – ohne Not, sondern als böse Frucht des Mammon-Glaubens. Wie wird es mir gelingen, mich an die Seite Jesu zu stellen? Denn die Versuchung durch den Mammon, das Mehr und Mehr auf Kosten meiner Nächsten lässt mich ja nicht kalt. Vor allem, wenn der Nächste, dessen Brot ich schmälere, in sicherer Entfernung lebt. Jesus weist mich den Weg des Gebetes. Im Gebet gewiss zu werden, dass ich mehr als die unverbrüchliche Treue Gottes niemals verdienen kann. Und die ist mir längst zugesprochen. Ich kann im Konkurrenzkampf um den besten Schatz auf Erden nicht mehr verlieren.

Und dann gilt es unter Nutzung des gottgegebenen Verstandes zuerst die eigene Lebensführung zu prüfen. Wo habe ich es in der Hand, mein tägliches Brot mehr als bisher nach dem Kriterium der Gerechtigkeit in Anspruch zu nehmen? Welche Handlungsspielräume habe ich da, als Verbraucher, als Bürger, als Gesprächspartner meiner Mitmenschen, als Gemeindeglied, das den Mund aufmacht, wenn die Gemeinde als Verbraucherin auftritt? Schließlich ist da die Ebene, auf der wir und unsere Kirche mitreden und streiten für das Menschenrecht auf Nahrung auf internationaler und globaler Ebene. Der Größe der Bedrohung entspricht hier die Vielfalt der Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen und Gerechtigkeit zu fordern. Die Briefaktionen angesichts von Verletzungen des Menschenrechts auf Nahrung, die wir nach unseren Gottesdiensten regelmäßig unterschreiben, sind nur ein Beispiel für viele Möglichkeiten konkreten Handelns. Kein Zweifel, dass solche Aktionen zum Gottesdienst gehören. Denn sie tragen dazu bei, dass bedrängte Mitmenschen befreit einstimmen können in den Psalmvers:

Aller Augen warten auf dich, dass du ihnen Speise gebest zur rechten Zeit. Wenn du ihnen gibst, so sammeln sie; wenn du deine Hand auftust, so werden sie mit Gutem gesättigt.

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