Das Hohe Lied der Liebe

Estomihi, 3. Februar 2008

Wenn ich die Sprachen aller Menschen spreche und sogar die Sprache der Engel, aber ich habe keine Liebe dann bin ich doch nur ein dröhnender Gong oder eine lärmende Trommel. Wenn ich prophetische Eingebungen habe und alle himmlischen Geheimnisse weiß und alle Erkenntnis besitze, wenn ich einen so starken Glauben habe, dass ich Berge versetzen kann, aber ich habe keine Liebe, dann bin ich nichts. Und wenn ich all meinen Besitz verteile und den Tod in den Flammen auf mich nehme, aber ich habe keine Liebe, dann nützt es mir nichts.

Die Liebe ist geduldig und gütig. Die Liebe eifert nicht für den eigenen Standpunkt. Sie prahlt nicht und spielt sich nicht auf. Sie lässt sich nicht zum Zorn reizen und trägt das Böse nicht nach. Die Liebe nimmt sich keine Freiheiten heraus, sie sucht nicht den eigenen Vorteil. Sie ist nicht schadenfroh, wenn anderen Unrecht geschieht, sondern freut sich mit, wenn jemand das Rechte tut.

Die Liebe gibt nie jemanden auf, in jeder Lage vertraut und hofft sie für andere; alles erträgt sie mit großer Geduld.

Niemals wird die Liebe vergehen. Prophetische Eingebungen hören einmal auf, das Reden in Sprachen des Geistes verstummt, auch die Erkenntnis wird ein Ende nehmen. Denn unser Erkennen ist Stückwerk, und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn sich die ganze Wahrheit enthüllen wird, ist es mit dem Stückwerk vorbei. Einst, als ich noch ein Kind war, da redete ich wie ein Kind, ich fühlte und dachte wie ein Kind. Als ich dann aber erwachsen war, habe ich die kindlichen Vorstellungen abgelegt.

Jetzt sehen wir nur ein unklares Bild wie in einem trüben Spiegel; dann aber schauen wir Gott von Angesicht. Jetzt kennen wir Gott nur unvollkommen; dann aber werden wir Gott völlig kennen, so wie er uns jetzt schon kennt.

Auch wenn alles einmal aufhört – Glaube, Hoffnung und Liebe nicht. Diese drei werden immer bleiben; doch am höchsten steht die Liebe.

(1. Korinther 13 – Übersetzung „Gute Nachricht“)

Wenn mich die Erinnerung nicht trügt, habe ich mich in mehr als 40 Pastorenjahren immer um das „Hohelied der Liebe“ als Predigttext herumgedrückt. Dieser atem­beraubende Katalog von Eigenschaften, von Tugenden der Liebe hat mich immer irgendwie erschlagen. Ihn in einer Predigt zu verkünden, kam mir immer vor, als wolle man ein Päckchen Streichhölzer mit einem 500 €-Schein bezahlen.

Dazu kommt noch, dass dieser eindeutig auf Christus gemünzte Text in unseren Gemeinden Karriere gemacht hat als einer der beliebtesten Trauungstexte. Von den Stichworten her verständlich! Aber auch im Zustand taufrischer Verliebtheit gehört ja schon einiges dazu, sich diese überschwängliche Liste von Tugenden zum Vorsatz zu machen.

Ja, jede einzelne dieser Liebestugenden erscheint wohl uns allen erstrebenswertehrlichen Herzens. Aber geballt, was ist das anderes als eine grandiose Überfor­derung, der der Katzenjammer auf dem Fuß folgen muss? Wagen wir es trotzdem mit diesem Text, trotz meiner Feigheit!

Wir Bibelleserinnen wissen ja, dass der Zusammenhang uns oft hilft, einzelne Abschnit­te biblischer Texte besser zu verstehen. So auch hier. Zuvor hat Paulus die christliche Gemeinde beschrieben als einen Organismus, einen Körper, in dem alle Teile alle anderen brauchen und einander zur Lebenstüchtigkeit verhelfen.

Wir sind nicht einfach eine zufällige Ansammlung von Leuten. Wir sind mehr als die Summe unserer Nasenspitzen. Die Treue der Alten, die Unternehmungslust der Jungen, der gute Rat, die helfende Tat. Jede und jeder steuern das Ihre und Seine bei. Erst dadurch entsteht eine Gemeinde, die diesen Namen verdient – mit Christus als lebendiger Mitte und Quelle der Hoffnung.

Dieses Leitbild von Gemeinde, wie wir heute wohl sagen, hat Paulus gepriesen. Und damit jeder verzankten und erschlaffte Gemeinde einen Spiegel vorgehalten, nur, um dann fortzufahren „Ich kennen aber etwas, das weit wichtiger ist als alle diese Fähigkeiten (einer lebendigen Gemeinde).“

Und dann geht es los. Eine sensationelle Geistesmacht nach der anderen wird aufge­rufen: alle Sprachen des Himmels und der Erde verstehen? Super, aber ohne Liebe nichts als Lärm!

Gottes Geheimnisse wirklich kennen, sich nicht nur einbilden, sie zu kennen – und dazu der sprichwörtliche Glaube, der Berge versetzt? Atemberaubend, vielleicht sogar die Antriebskraft des einen oder anderen religiösen Fanatikers – aber ohne Liebe wertlos!

Und was für die Triumphstraße des Glaubens gilt, z.B. Berge versetzen, das gilt auch für den „unteren Weg“, von dem manche Fromme meiner Kindheit mit Vorliebe sprachen. Sich selber, eigene Interessen um des Glaubens willen aufgeben; alle Habe den Armen, und wenn es nötig ist, der Märtyrertod. Immerhin bittet Jesus ja den „reichen Jüngling“ inständig, sich von seinem Besitz zu lösen – um anschließend für die Nachfolge gerüstet zu sein – aber ohne Liebe führen auch Besitzlosigkeit und Opferbereitschaft nicht ans Ziel.

Und dann gießt Paulus das ganze Füllhorn der Liebestugenden aus. Keine himmlischen Tugenden, durchaus irdische, die jede und jeder von uns zu beurteilen vermag und wohl auch hoch schätzt.

Geduld, auch dann, wenn sie wirklich auf die Probe gestellt wird. Güte und Gelas­sen­heit des Herzens. Wer liebt, ist kein eitler Pfau, wobei mit Liebe hier natürlich nicht die vergnüglichen Balzspielchen der Werbung bei Mensch und Tier gemeint sind. Die uneitle Liebe ist die, die wir nahen und fernen Menschen im grauen oder helleren Alltag des Lebens zuwenden.

Wer müsste uns extra erklären, wie wichtig und kostbar Takt, die Fähigkeit, sich für andere öffnen und die Abwesenheit von Schadenfreude sind? Solche ganz und gar menschlichen Erscheinungsformen der Liebe verbergen sich in den zu „Goldenen Worten“ erstarrten Formeln der Luther-Übersetzung.

Mich spricht in der Übersetzung der „Guten Nachricht“ heute am direktesten dieser Satz an „Wer liebt, gibt niemals jemanden auf.“ (Luther Vers 7 zitieren: Sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.) Ein kapitales Stück Hoffnung für persön­liche Beziehungen, für unsere Diakonie, für die verzweifelten Sackgassen, in denen Menschen weltweit gefangen sind.

All dies, dessen Wert wir so gut kennen, all dies, das wir so lieben und so oft vermis­sen, sagt Paulus, all dies ist die wirklich harte Währung des Lebens. Es ist als einzi­ges inflationsbeständig. Die wirklich großen Worte, die die Zeit zutreffend deuten; die spirituellen und theologischen Spitzenleistungen sind vergänglich. Ihre Schwäche, sagt Paulus, ist ihr trotz allem zu geringer Wahrheitsgehalt. Und er kommt auf ein Gleichnis zu sprechen, das den Menschen seiner Zeit sehr vertraut war: das Gleichnis vom halbblinden Spiegel. Er mag aus Bronze sein, so gut es geht, poliert – aber er gibt mehr eine Ahnung denn ein scharfes Bild der Wirklichkeit.

Wir leben in der Zeit der unscharfen Spiegelbilder. Wir brauchen die Bilder, weil wir das Leben bestehen müssen. Aber Erkenntnisse und Urteile bleiben missverständlich.

Aber Gott wird uns in eine neue Wirklichkeit führen, in der unsere Augen nicht mehr auf unscharfe Spiegelbilder angewiesen sind. Selbst das verborgenste aller verborgenen Bilder wird sich uns darbieten: wir werden Gott erkennen, so wie er uns heute schon kennt.

In der Zeit, die die schemenhaften Spiegelbilder ablösen wird – davon ist Paulus fest überzeugt – wird sich herausstellen, dass sich unser Herz in einer Sache nicht geirrt hat: im Primat der Liebe. Wir behaupten ihn Tag für Tag tausendfach – die Liebe ist das Höchste; vom billigsten Kitsch bis zum ernsthaften gelebten Bekenntnis. Und wirklich:wir liegen damit richtig.

Paulus hat den Namen Jesu in diesem „Hohen Lied der Liebe“ nicht einmal erwähnt. Aber Jesus macht den Unterschied zwischen Schemen und Gewissheit. Paulus kann sich ja unseren Platz im Leben nur vorstellen und ihn dann beschreiben als Beziehung, als Liebesbeziehung zu Jesus. Wobei Jesus sichtbar macht, was die Haltung des unsichtbaren Gottes zu uns ist.

Über die Liebe lässt sich heute schon Verbindliches sagen, weil Augen und Ohren es ablesen können an Worten und Taten Jesu. Kommt und seht! Diese Aufforderung, Jesus auf den Mund und auf die Finger zu schauen, findet sich in den Evangelien manches Mal.

Und so ist dann die Liste der Tugenden der Liebe auch nicht mehr erschlagend. Es gibt kein Gebot der Vollkommenheit, das zum Mühlstein an unseren Hals zu werden droht. Es gibt die Taten und das Versagen der Nachfolge – bis hin zur Verleugnung – immer aufgefangen und neu auf die Füße gestellt durch neu geweckten Glauben und erlebte Vergebung.

So freue dich der Taten und Haltungen der Liebe, die dir zuteil werden – oder die du anderen geben kannst. Und wisse, es ist nicht das ganze Ausmaß des bei Gott Mögli­chen. Aber du hast einen Zipfel des Segels erfasst, das das Schiff des Lebens voran treibt. Bitte Gott um neue gute Erfahrungen. Und lass es damit gut sein, wirklich gut sein, dass Gott im Zeitalter der schemenhaften Spiegelbilder in den Schwachen mächtig ist.

Ganz und gar missverstehen können wir das Leben nicht: am Ende bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe. Und nichts geht über die Liebe.

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