Das Pfingstwunder

Pfingsten, 15. Mai 2005

Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle an einem Ort beieinander. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt wie von Feuer; und er setzte sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen.

Es wohnten aber in Jerusalem Juden, die waren gottesfürchtige Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Als nun dieses Brausen geschah, kam die Menge zusammen und wurde bestürzt; denn ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden. Sie entsetzten sich aber, verwunderten sich und sprachen: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, aus Galiläa? Wie hören wir denn jeder seine eigene Muttersprache? Parther und Meder und Elamiter und die wir wohnen in Mesopotamien und Judäa, Kappadozien, Pontus und der Provinz Asien, Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene in Libyen und Einwanderer aus Rom, Juden und Judengenossen, Kreter und Araber: wir hören sie in unsern Sprachen von den großen Taten Gottes reden.

Sie entsetzten sich aber alle und wurden ratlos und sprachen einer zu dem andern: Was will das werden? Andere aber hatten ihren Spott und sprachen: Sie sind voll von süßem Wein.

(Apostelgeschichte 2,1-13)

„Riesenbesäufnis beim Morgengebet. Jesusfans völlig durchgeknallt!“ Hätte Jerusa­lem sich damals einer BILD-Zeitung erfreut: so etwa hätte die Schlagzeile am Pfingst­montag gelautet.

Dass die Jesus-Leute sich als gute Juden an dem hohen Feiertag 50 Tage nach dem Passahfest treffen, das ist natürlich keine Meldung wert. So wie sich heute niemand darum kümmert, dass wir uns zum Gottesdienst treffen. Gläubige unter sich, ohne die Absicht, die Welt zu verändern, werden in der Regel in Ruhe gelassen. Selbst im Fall der Jesus-Leute. Ihr gefährlicher Anführer ist beseitigt. Die absurde Botschaft von seiner Auferstehung ist über seinen alten Kreis nicht hinaus gedrungen. Sollen sie sich doch damit trösten und mit der Zeit aussterben.

Noch einmal: wir blicken nicht auf Menschen, denen Jesus egal ist. Ihr ganzes Herz hängt an ihm. Vor allem teilen sie die überwältigende Gewissheit: „Der Herr ist aufer­standen. Er ist wahrhaftig auferstanden.“ Aber sie schaffen nicht mehr, als für einander da zu sein. Das immerhin, aber nicht mehr. Auch das ein Bild von Gemeinde, das uns nicht fremd ist.

Gewiss im Glauben an Jesus, gewiss, dass er das A und O Gottes ist, das A und O ihres persönlichen Lebens, und doch sind sie wie gelähmt angesichts der Menschen um sie herum. Das ist das Bild, das ist die Selbsterfahrung von Gemeinden, die ohne den Heiligen Geist leben müssen. Diese Lähmung des missionarischen Sinns trifft die Jesus-Leute nicht unerwartet. Sie ist noch nicht einmal von ihnen verschuldet. Damals, als Jesus sie aussandte in die Dörfer Palästinas, um mit Wort und Tat das anbrechende Gottesreich zu verkünden, da war Jesus von Nazareth leibhaftig ihr Auftraggeber und Rückhalt. Kein Zweifel war möglich.

Jesus selber warnt die Seinen davor, sich eines Tages aus eigenem Entschluss als Missionarinnen und Missionare auf den Weg zu machen. Sie würden scheitern. Warten auf den Heiligen Geist ist etwas Unerlässliches und Normales im Leben von Glaubenden und Gemeinden. Schon das Alte Testament ist voll von Momenten, in denen Gott einzelnen Menschen diese zweifelsfreie Gewissheit gibt: jetzt ist der Zeitpunkt da, einen Auftrag Gottes auszuführen. Wie hätten Prophetinnen und Propheten je reden können ohne diese Gewissheit. Sie ist Auftrag und Energiequelle zugleich.

Gottes Geist, Heiliger Geist, in der Bibel ist das Bild und Beweis zugleich für die Erfahrung, dass Gott unser Leben und die Welt täglich in seiner Hand hält. Nicht wie ein Kunstsammler, der seine Schätze hütet, sondern wie eine Mutter, die nicht auf­hört, sich mit Liebe und Freude zu kümmern.

Was die Jesus-Leute an diesem Morgen hören und sehen, soll ihnen Gewissheit ge­ben. Letzte Gewissheit darüber, dass sich Gott selber durch seinen Geist ihres Gei­stes, ihres Lebens bemächtigt. Menschliche Vorstellungskraft und Verfügungs­ge­walt sprengende Naturgewalten führen auch uns sog. moderne Menschen zu der Er­kenntnis, dass wir nicht die wirklichen Herren über unser Leben sind. Wind und Feuer – wie in dieser Morgenstunde – sind aber bei weitem nicht die einzigen Zeichen, durch die Gott nach Menschen greift. Martin Luther erzählt zwar von so einer ähnlichen Schrecksekunde Gottes in seinem Leben. Aber am Ende erlebt er sein Pfingstwunder, das ihn für den Rest seines Lebens handlungsfähig macht, beim Bibellesen. Niemand weiß, wie viele verschiedene Pfingstzeichen Gott für verschiede­ne Menschen schon gewählt hat. Aber an die zwei Zeichen „Wind und Feuer“ dürfen wir getrost einige Nullen anhängen. Die Entschuldigung, bei uns hat es weder gebraust noch geblitzt, zählt jedenfalls nicht.

Worauf es ankommt, ist die totale Veränderung von jetzt bis gleich: nun geht der Mund über von dem, wovon das Herz schon lange voll ist. Von einem Moment, von einem Tag auf den anderen. Sie fangen an zu predigen, nicht wie ein disziplinierter Pastor, sondern wie ein Mensch, der nicht an sich halten kann: „Das muss ich loswer­den, das muss ich dir unbedingt erzählen.“ Eigentlich eine einfache, weil durch und durch menschliche Sache. Sie fangen an zu reden, von Jesus natürlich, von wem sonst. Und zwar alle. Der Heilige Geist lässt sich nicht in die Zuständigkeit der Predigerinnen und Prediger abschieben. Und wir gucken uns dann an, wie die besser oder schlechter damit zurecht kommen. Gute Vorstellung, schlechte Vorstellung.

Die Jesus-Leute in Jerusalem sind längst mehr als die Männer, deren Namen wir aus den Apostellisten kennen. Möglicherweise bereits mehrheitlich Frauen. Schwestern und Brüder im Glauben, die an diesem Morgen dabei sind, aber für uns bis zum jüngsten Tag namenlos bleiben. Aber keine und keiner will und kann sich dem heiligen Geist verweigern. Soviel Jesus-Leute, soviel Jesus-Botschafterinnen und -Botschafter. So wird aus den Jesus-Leuten die Urzelle der Kirche, erst dadurch. Jesus liebhaben und Kirche sein, so ungewohnt, wie es klingen mag, ist eben nicht dasselbe.

Sprachbarrieren gibt es nach der Machtergreifung des Heiligen Geistes nicht mehr. Das war eigentlich zu erwarten. Gott spricht mit einer Sprache der Liebe zu allen Menschen und hilft ihnen damit, einander zu verstehen. So wie die Machtergreifung eines bösen Geistes Menschen unfähig macht, einander zu verstehen und zu achten. Eigentlich braucht mein Glaube für das pfingstliche Sprachwunder keinen Beweis. Aber mich hat doch sehr beeindruckt, dass die Anthropologen, die menschliches Verhalten erforschen, unter allen Völkern, in allen Kulturen und Gesellschaftsord­nungen die gleiche, keiner Übersetzung bedürftige eine Sprache menschlichen Wesens wiederfinden. Liebe, Hass, Freude, Angst, Trost, sogar Glaube und Gebet haben Ausdrucksformen, die jeder Mensch erkennt, die keinen Menschen unberührt lassen, egal, wo er ihnen begegnet. Und je deutlicher diese Sprache der menschlichen Seele nach außen dringt, umso leichter fällt es uns wohl auch, die dazu gehörenden Worte zu lernen.

In Jerusalem, als die Kirche geboren wurde, kam etwas dazu, das heute immer noch ganz wichtig ist: es gibt viele Menschen, die mit uns zusammen den Weg des Lebens suchen. Von gottesfürchtigen Männern aus allerlei Völkern unter dem Himmel redet Martin Luthers Übersetzung. Darunter müssen wir uns wohl Juden vorstellen, die in den Ländern rund ums Mittelmeer gelebt haben und die jetzt nach Jerusalem gezogen sind, um dort auf Gottes große Taten für sein Volk Israel zu warten, darauf zu hoffen, im Tempel dafür zu beten. Dass genauso viele Frauen mit ihnen gezogen sind, dürfen wir getrost unterstellen. Die Liste ihrer Heimatländer klingt für uns nach böhmischen Dörfern. In heutiger Geographie müssten wir alles von Irak, Iran, Türkei, Ägypten, Griechenland bis Libyen und Italien aufführen. Sie alle erwarten etwas von Gott – und wissen doch nicht genau was. Sie sind den Jesus-Leuten ohne Heiligen Geist nicht unähnlich.

Diese hoffenden und suchenden Menschen begreifen, was der Sensationsreporter von BILD-Jerusalem nicht begreift. Der schnappt nur auf, was einzelne Stimmen rufen: „Neun Uhr früh und schon besoffen.“ Aber viele andere verstehen, wovonsie Augen- und Ohrenzeugen werden: Ihr Gott, auf den auch sie hoffen, hat hier von Menschen Besitz ergriffen. Diese Jesus-Leute gehören nicht allein sich selbst. Sie sind Werkzeuge geworden. Übermittler einer Botschaft, die von Gott selber ausgeht. Wort Gottes aus Menschenmund, wie schon so oft in der Geschichte des Gottesvolkes, und doch so lange entbehrt. Das ist das Wichtigste, das Erste, das sie verstehen müssen und verstehen; das, was das Herz zum Hinhören bereit macht. Ohne dies ursprüng­liche Verstehen helfen alle Dolmetscherdienste der Weltkirche nicht weiter.

Es macht großen Spaß, sich in die Geschichte der Bibelübersetzungen zu vertiefen; obwohl auch sie nicht ohne traurige Kapitel ist. Es macht Spaß zu erfahren, wie z.B. Eskimo-Missionare die harte Nuss geknackt haben, die Gleichnisworte von Jesus, dem „Lamm Gottes“ zu übersetzen. Weit und breit kein Schäfchen auf Grönland. Aber irgendwann spürt ein Christ, dass man vielleicht von dem „Kleinen Seehund Gottes“ sprechen sollte, wenn man die Empfindungen von Opfer oder Wehrlosigkeit ausdrücken wollte.

Heute gibt es kaum eine Sprache mehr, in der die Botschaft von Jesus nicht gedruckt zur Verfügung steht, im Deutschen in vielen Fassungen. Wahrscheinlich ist uns bewusst, dass wir dringend Bibelübersetzungen anderer Art brauchen. Übersetzun­gen, die nicht in Studierstuben entstehen können: wir brauchen den Heiligen Geist, um die Botschaft von Jesus, die Botschaft Jesu in die Sprache der Jugend der Welt zu übersetzen, einer Jugend, die Liebe und Hoffnung braucht und Schund und Hoffnungslosigkeit hinge­worfen bekommt. Wir brauchen Übersetzungen in die Sprache der Armen, der um ihre Zukunft Bangenden, der Arbeitslosen, in die Sprache der Alten und Einsamen. Große Übersetzungswerke dieser Art hat der Heilige Geist bereits ins Werk gesetzt. An vielen Orten der Welt wird die Bibel täglich übersetzt in die Sprachen der Hungernden, der Flüchtlinge, der Verfolgten und Gefangenen. Pfingsten passiert tagtäglich, global. Viel passiert durch ganz normale Leute, die Gott zum Reden bringt auf die Gefahr hin, dass der eine oder andere sie für besoffen hält. Genauso viel passiert durch ganz normale Menschen, die Gott zum Handeln bringt, weil Taten oft die unmissverständlichsten Worte sind.

Worte und Taten zusammengenommen ergeben auch heute den Satz, mit dem Petrus seine Rede an die Gott suchenden Menschen von Jerusalem beendet: „So wisse nun das ganze Volk Gottes gewiss, dass Gott diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt, zum Herrn und Christus gemacht hat.“

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