„Der ungerechte Richter“

Drittletzter Sonntag nach Trinitatis, 6. November 2011


Er sagte ihnen aber ein Gleichnis darüber, dass sie allezeit beten und nicht nachlassen sollten, und sprach: Es war ein Richter in einer Stadt, der fürchtete sich nicht vor Gott und scheute sich vor keinem Menschen. Es war aber eine Witwe in derselben Stadt, die kam zu ihm und sprach: Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher! Und er wollte lange nicht. Danach aber dachte er bei sich selbst: Wenn ich mich schon vor Gott nicht fürchte noch vor keinem Men­schen scheue, will ich doch dieser Witwe, weil sie mir so viel Mühe macht, Recht schaffen, damit sie nicht zuletzt komme und mir ins Gesicht schlage.

Da sprach der Herr: Hört, was der ungerechte Richter sagt! Sollte Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er’s bei ihnen lange hinziehen? Ich sage euch: Er wird ihnen Recht schaffen in Kürze. Doch wenn der Menschensohn kommen wird, meinst du, er werde Glauben finden auf Erden?

(Lukas 18,1-8)

Es gibt Jesusgeschichten, da bleibt einem die Spucke weg. Das hier ist so eine. Gott, der Heilige, der Gerechte schlechthin, er muss es sich gefallen lassen, mit einem moralisch fragwürdigen Richter verglichen zu werden. Gewiss, Jesu Vergleich funktioniert nach dem Muster: wenn schon der eine – dann erst recht der andere! Trotzdem, mancher um die Ehre Gottes besorgte Religionswächter wäre wohl froh, wenn Jesus auf diesen Vergleich verzichtet hätte. Genau genommen sind aber weder der irdische Richter noch Gott im Himmel die Hauptperson dieses Gleichnisses. Das ist diese anonyme Frau in einer nicht näher beschriebenen haarsträubenden Notlage.

Sogar heute, in unserem Rechtsstaat, gilt der Erfahrungssatz „Recht haben und Recht bekommen ist zweierlei“. Da hat die Heldin dieser Geschichte noch ungleich schlechte­re Karten. Eine Frau, mit damals ohnehin eingeschränkten bürgerlichen Rechten; viel schlimmer: eine Witwe. Verglichen mit ihr lebt bei uns jeder Hartz IV-Empfänger in einem rechtlichen und sozialen Schlaraffenland. Ihr Gegner ein Mann; der Rechtsstreit: eine Sache, bei es für sie offensichtlich um die nackte Existenz geht. Denken wir z.B. an eine Erbschaftsangelegenheit oder an fragwürdige Forderungen an den verstorbenen Ehemann.

Und der Richter: ein übler Bursche – im Vergleich mit unserer Justiz nicht eingebun­den in ein Kontrollsystem von Gesetzen, Obergerichten und Grundsatzurteilen. Was diesen Herrn nicht daran hindert, sich selbst ganz in Ordnung zu finden. Er fürchtet sich nicht vor Gott und vor keinem Menschen. Einer von der Sorte „Mir kann keener!“

Das ist das Szenario für ein Drama der Hoffnung. Im einleitenden Satz der Geschich­te haben wir gehört, in welcher Sache Jesus Klarheit schaffen will – noch einmal. Jesus „sagte seinen Jüngern ein Gleichnis darüber, dass sie zu allen Zeiten beten und nicht nachlassen sollten.“

Nicht besonders originell, mag der Nichtchrist urteilen, wenn er Jesus so reden hört. Welche Religion, die es mit Gott hat, verzichtet schon darauf, diese Verbindung zwischen ihm und seinen Gläubigen zu pflegen? Zu den fünf Säulen des Islam, der es diese Woche dank der Millionen von Mekka-Pilgern wieder mal in die Tagesschau geschafft hat, gehört das fünfmalige Gebet, jeden Tag, den Allah werden lässt. Jedes Krankenhaus, sogar jedes Gefängnis hierzulande trifft für diese Gebetspraxis ihre Vorkehrungen.

Ja, und auch uns kann eine Aufforderung zum Gebet nicht wirklich überraschen. Wir tun´s ja auch; etliche Male in diesem Gottesdienst; in früheren Generationen – ohne dass der Pastor zuhörte – auch am Esstisch. Und die eine oder der andere unverändert ganz privat. Also bitte, lieber Jesus, diesbezüglich musst du uns nicht die Leviten lesen! Tut er auch gar nicht!

Nehmen wir sein Bild beim Wort, dann will er uns vorsorglich, fürsorglich, auf ein Verhalten – oder soll ich sagen – auf eine Eigenschaft Gottes hinweisen, mit der betende Menschen rechnen müssen. Gott antwortet auf mein Gebet nicht wie der Automat auf den Münzeinwurf. Oder wie die Suchmaschine im Internet auf die allermeisten Stichworte.

Wie viel von diesem unnahbaren, selbstherrlichen Richter steckt schlimmstenfalls in diesem unberechenbaren Gott, für den Jesus doch so zärtliche Anreden findet? Mich quälen schlimmste Ängste, Zweifel, Notlagen, Schuld, Hoffnungslosigkeit, was immer das Leben zur Qual machen kann – und die befreiende Antwort bleibt aus, so oft ich im Gebet auch darum bitte.

Dem irdischen Richter traut Jesus wahrhaft verwerfliche Motive zu, Motive, die auch seine Berufskolleginnen und -kollegen empören werden: Rechtsbeugung durch Rechtsverweigerung: Dies Weib kann mir den Buckel runterrutschen. Wer ist sie? Niemand kann mir ihretwegen etwas am Zeuge flicken. Eins ums andere Mal verscheucht er sie wie eine lästige Fliege.

Am Ende bringt nicht ihre Notlage, sondern sein strapaziertes Nervenkostüm die Dinge ins Rollen: dieser Frau traut er mittlerweile alles zu; auch dass sie ausrastet und ihn womöglich auf dem Marktplatz öffentlich ohrfeigt. Das würde ihr übel bekommen. Aber ein Mann seiner Position lebt vom Image. Und irgendwie haben die Witwen in den Heiligen Schriften auch ihre himmlische Lobby. Also her mit dem lästigen Fall! Juristisch wohl nichts Kompliziertes. Also beschlossen und verkündet. Und in der Stadt und in seinem Haus ist ein kleiner Skandalherd beseitigt.

Das teilt Jesus von Nazareth mit uns allen, die er seine Brüder und Schwestern nennt: auch er kann auf Erden von Gott nur sprechen in den Bildern und Worten menschli­cher Lebenserfahrung. So ist Gott selbstverständlich nicht dieser fragwürdige Rich­ter. Aber wie er sich verhält, das kann entmutigte und enttäuschte Betende an ihre Erfahrungen erinnern.

Kaum ein Mensch lernt das christliche Gebet ja anders kennen, denn als eine Einladung zu Vertrauen und Geborgenheit – vor allem wenn er es schon in seiner Kindheit kennen­lernt. Gott freue sich über unser Gebet, wurde uns gesagt. Unsere Gebete sind gleichsam ein Rosenteppich, auf dem Gottes Ehre ruht. Und Gott beeilt sich zu antworten: durch Freude, die unser Herz erfüllt; durch die Gewissheit, dass uns nichts aus seiner Hand reißen kann; durch offene Augen für Aufgaben und Ziele unseres Lebens.

Und eines bitteren Tages, wenn es darauf ankommt, wenn Gottes helfende, rettende Antwort lebensnotwendig geworden ist, dann bleibt der Briefkasten der Seele leer. Dann wirkt Gott auf mich wie ein Vertrauter, ein Stützpfeiler meines Lebens, der sich auf einmal ganz unbegreiflich in dauerhaftes Schweigen hüllt, jetzt, wo sein Wort nötiger wäre denn je. Dann beginnen die verzweifelten Mutmaßungen. Dann kann Gott auch in die Schablone dieses pflichtvergessenen Richters rutschen.

Zweierlei tut Jesus nicht: er verurteilt niemanden, dem es mit seinen Gebeten so ergeht. Das ist keine Schuld, mit bitteren menschlichen Gefühlen auf ausbleibende rettende Antworten zu reagieren.

Und Jesus sagt auch nicht: unser Gott ist gar nicht so. Sein eigenes Herz will ja zerrei­ßen bei diesem Schrei am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlas­sen?“ Nein, der Gott, der Menschen die eiskalte Schulter zeigt – den sie so erleben und erleiden – er wird von Jesus nicht dementiert; er kann von Jesus gar nicht dementiert werden.

Aber – das will Jesus weitergeben – auch der abgewandte, der zu Zeiten stumme Gott behält ein Ohr und ein Herz. Letzten Endes steht Gott nicht über den Nöten unseres Lebens. Dafür ist er zu eng mit uns verwachsen. So wie jener Richter mit den kleinen Leuten seiner Umgebung. Gott kann nicht anders, als sich wieder zu uns umzudre­hen, uns wieder zu sehen, anzusehen. Und wenn das einmal geschehen ist, dann gewinnen Liebe und Gerechtigkeit die Oberhand. Da ist Gott der Gefangene seiner selbst. Da entfällt auch der Unsicherheitsfaktor, der bei diesem willkürlichen Richter immer gegeben bleibt.

Damit könnt ihr rechnen! Darauf könnt ihr setzen, ruft Jesus allen zu, die diese Bitterkeit des Gebetes ohne Antwort erleben. Lasst ihn deshalb nicht los, obwohl ihr euch allein gelassen fühlt. Eindeutiger: obwohl ihr allein seid! Lasst Gott nicht los, mit demselben Selbstbehauptungswillen des Herzens, der diese missachtete Frau so hartnäckig gemacht hat.

Jesus kennt auch diese geradezu gewalttätige Gebetsszene – jedenfalls kann ich sie nur so deuten: da durchlebt Israels Vater Jakob bei seiner Heimkehr aus der Fremde einen nächtlichen Ringkampf mit einer göttlichen Erscheinung. Und am Ende steht seine Forderung: „Ich lasse dich nicht, bis du mich segnest.“ Und das geschieht dann.

Darum lass dich nicht abweisen. Mach es wie die Frau im Vorzimmer des Richters oder wie der Mann Jakob am Flüsschen Jabbok. Mache dich unwiderstehlich für Gott. Du kannst es. Neuerdings sagt man das ja auf Englisch, wenn man wild entschlossen ist: „Yes, we can“.

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