Die Berufung des Zöllners Matthäus

Septuagesimae, 23. Januar 2005

Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm. Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? Als das Jesus hörte, sprach er: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): »Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.« Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.

Matthäus 9, 9-13


Über den Namen des Zolleinnehmers, der es mit Jesus zu tun bekommt, sind sich die Evangelisten nicht einig. Aber das Ereignis selbst ist ihnen so wichtig, so charakteris­tisch für Jesus, dass sie alle davon berichten. Im Matthäusevangelium heißt er Matthäus, so wie der uns in Wirklichkeit unbekannte Autor des Evangeliums.

Die Menschen im Mittelpunkt dieses Ereignisses fallen unter einen Sammelbegriff, der bibellesenden Menschen vertraut ist: „Zöllner und Sünder“. Fromme Menschen zur Zeit Jesu hat es bei diesem Begriffspaar geschüttelt. Aber so ganz einfach ist er gar nicht in unsere Zeit zu übersetzen. Aus einer Stimmung heraus könnte ich statt Zöllner sagen „Beamte und Politiker“. Aber das ginge ziemlich weit an der Sache vorbei.

Zöllner waren nicht einfach das, was wir Öffentlichen Dienst nennen. Die waren Unternehmer, die bestimmte Mautstellen gepachtet hatten, bestimmte Beträge an die Staatskasse des Herodes abführen mussten -–und im übrigen die Bauern und Händler Israels als Freiwild behandelten. Da passen Beamten-Vorurteile schlecht hinein. Ich jedenfalls möchte nicht gern Sachbearbeiter für Hartz IV-Anträge sein.

Und Politiker? Sie sind in ihrer großen Mehrheit nun wirklich nicht das, als was sie im Blick auf Charakter derzeit karikiert werden. Ich sage das, nachdem ich sehr viele Menschen in Parlamenten und Regierungen im Lauf der Jahrzehnte kennengelernt habe. Ob ich Ehepartner oder Sohn eines Spitzenpolitikers sein möchte, ist eine andere Sache.

So viel zu den Zöllnern. Unter Sünder fallen alle, die nach den Maßstäben der ernst­haft Frommen – das sind die Pharisäer – die Gebote Gottes offensichtlich und öffent­lich verletzen. Dabei fällt der richtende Blick von Männern schon immer gern auf Frauen. Aber selbstverständlich geraten auch Männer auf die Sünderliste. Erst vor kurzem sprachen wir von den Hirten. Sie galten als ganze Gruppe als unwürdige Leute.

Zöllner und Sünder, sie waren wie so oft beides: Menschen, in deren Leben vieles nicht in Ordnung war, die ihren Mitmenschen Unrecht und Leid zufügten – aber eben auch das abschreckende Bild, das Fromme brauchen und nutzen, um zu demonstrieren, wie man nichtsein darf. Ein wichtiger Unterschied zu heute: damals waren die Rechtschaf­fenen im Regelfall gleichzeitig die Frommen. Heute muss man nicht mehr fromm sein, um mit dem Finger auf andere zu zeigen.

So viel zu den Personen des Geschehens. Jesus behandelt den Zollstellenpächter Matthäus nicht anders als die fischenden Brüderpaare am Ufer des Sees Genezareth. Den einen wie die anderen nimmt er wahr und fordert sie auf: „Folge mir nach!“ Keiner bekommt eine Begründung, warum gerade er. Keiner ist vorher von einer Berufungs­kommission durchgehechelt worden, wie heutzutage bei wichtigen Ämterbesetzungen in Staat oder Kirche.

Warum sind ausgerechnet wir in die Kirche geraten, mit dem Herzen und in Wirklich­keit? Am Ende bleibt übrig: Jesus hat uns gesehen und wir haben nicht Nein gesagt. Dabei ist Jesus kein Dummkopf und kennt vor allem die Herzen. Er weiß, auf wen er sich mit Matthäus eingelassen hat. Er weiß, wie es um mich steht.

Matthäus seinerseits lässt wahrscheinlich mehr zurück als der Fischer Petrus und seine Kollegen. Eine gute Zollstelle wirft bei entsprechender Geschäftstüchtigkeit gewiss mehr ab als der Fischmarkt von Kapernaum. Eben deshalb bleiben die großen Wenden im Leben gewisser Christenmenschen fester im Gedächtnis der Kirche als der geordnete Lebenslauf vom christlichen Elternhaus ins eigene Christenleben.

Vom Moment seiner Berufung an ist der Zöllner Matthäus nicht Jünger auf Bewäh­rung, sondern Jünger. Jesus setzt sich an seinen Tisch. Er ist sein Gast, so wie wir mit dem bekannten Tischgebetsvers bitten. Und das Haus füllt sich. So wie bei uns: jeder hat die Freunde und Bekannten, die zu uns passen. Kollegen, Leute mit der gleichen Einstellung, den gleichen Erfahrungen. Gleich und gleich gesellt sich gern. Und heraus kommt in diesem Fall ein Bild, das den Frommen die Zornesröte ins Gesicht treibt. Ausbeuter und Gesindel an einem Tisch und der Skandalrabbi Jesu in ihrer Mitte!

Da geht es nicht mehr um das, was Jesus hier oder da gesagt hat. Der Anblick ist der Skandal, nicht anders als heute. Die öffentliche Meinung lebt weit mehr von Skandalbildern als von Skandalworten. Dabei können Skandalbilder noch viel einfacher lügen als Skandalworte. „Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?“ An welchen Tisch in Magdeburg müsste sich eigentlich unser Bischof vor laufender Kamera setzen, um ähnliche Empörung auszulösen? Gar keine einfache Frage. Wo kommen heute Ausbeutung und sonstige Zügellosigkeit zusammen?

Jesus antwortet auf die Empörung an Stelle der Jünger. Bei vergleichbaren Zusam­men­stößen heißt es wiederholt von Jesus: „Als er aber ihre Gedanken erkannte…“ Jesus, nicht nur er, aber er besonders, erkennt die Beweggründe des menschlichen Herzens. Auf seine Antworten zu warten und zu setzen, ist deshalb ein guter Rat. Ich habe das von Martin Niemöller im Sinn behalten. Wenn es wirklich kompliziert und konfliktträchtig wird, fragen: „Was würde Jesus dazu sagen?“ Und seine Antwort zu hören versuchen.

Jesu Antwort hat das Zeug zum geflügelten Wort. „Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“ Das ist doch wohl so. Davon geht man im normalen Leben doch wohl aus. Manch einem Hundertjährigen wird im Jubiläumsartikel nachgesagt, dass er so gut wie nie beim Arzt war.

Der springende Punkt ist die Anwendung dieser Lebensregel auf die Seelen der Zöllner und Sünder. In Jesu Augen sind sie nicht zuerst Fälle für den Staatsanwalt oder den Bußprediger. Sie sind Kranke, die längst die Hoffnung auf Heilung aufgegeben haben. Aber sie sind dennoch Menschen, die Gott immer noch heilen möchte. Der erste Schritt dazu ist, mit ihnen auf Tuchfühlung zu gehen. Das tut Jesus am Tisch im Haus des Zollpächters Matthäus.

Mit einem Zitat aus dem Propheten Hosea sagt Jesus etwas über die Methode, mit der Gott kranke Seelen heilt: „Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.“ Barmherzigkeit, am Verhalten Jesu abzulesen, kommt nicht von oben herab. Sie teilt nicht eine milde Gabe zu und lässt es dabei bewenden. Barmherzigkeit ist Zuwen­dung. Sich mit Menschen, die das gar nicht mehr erwarten, an einen Tisch setzen; ihnen das Herz zuwenden; die Einsamkeit ihrer Herzen spüren und aufheben.

Das ist im Ernstfall des Lebens viel und wenig zugleich. Es braucht in der Begegnung von Mensch zu Mensch keine besonderen kirchlichen Einrichtungen, Fachpersonal oder Gelder. Aber es geht nicht ohne die Öffnung des Herzens für Menschen, die wir mögli­cherweise für Feinde der Menschen und Feinde unseres Glaubens halten. Allzu oft habe ich das auch in meinem Pastorenleben nicht erlebt. Aber man sollte wissen, wozu der Glaube herausfordern kann, um im Alltag richtig mit ihm umzugehen.

Dem Bild von den vor Gesundheit Strotzenden und den Kranken entspricht das Schluss­wort der Matthäus-Geschichte. „Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.“ Die darf es auf gut Lutherisch ja eigentlich gar nicht geben: die Gerechten. Wir sind doch allzumal Sünder. Aber Jesus kümmert sich nicht darum. Er unterstellt einfach, dass es Menschen gibt, die mit Gottes Willen in Einklang leben. Die diesen Schatz ihr eigen nennen – allen Erfahrungen von Schwäche und Schuld zum Trotz. Sollen sie dankbar sein für das, wovon sie leben!

Aber die bindende Priorität in Jesu Leben ist die Suche nach den anderen, den Sün­dern. Und darin ist Jesus das Spiegelbild Gottes. Götter gibt es viele und imposante. Aber dieser hat eine Eigenheit, an der er unzweifelhaft zu erkennen ist – wie wir neuerdings am genetischen Fingerabdruck: er will die Wende bringen in das Leben derer, die eigentlich schon verspielt haben. Er ist der Rettungsposten am Abgrund.

Das ist gut zu wissen auch für alle, die Grund zu der Vermutung haben, dass Jesus sich um sie weniger Sorgen machen muss. Denn die Wende in Richtung Abgrund kann kommen, solange wir leben. Und dann können wir mit Jesus rechnen – nicht anders als Matthäus und seine Clique.

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