Gott sieht, Gott hört

Oculi, 27. Februar 2005


Die Augen des Herrn merken auf die Gerechten und seine Ohren auf ihr Schreien.

(Psalm 34,16)

Ausgerechnet diesen Halbsatz von den Augen Gottes haben die Leute, die die Psalmen in unserem Gesangbuch ausgewählt haben, weggelassen. Dabei hat er dem dritten Sonntag der Passionszeit den Namen gegeben: Oculi domini, die Augen des Herrn… (Psalm 34,16) Vielleicht war ihnen ja die Vorstellung sympathischer, dass unser Gott hinhört: „Wenn die Gerechten schreien, so hört der Herr.“ Ganz unverständlich wäre die größere Sympathie für Gottes Ohren nicht. Meine erste Erfahrung mit den Augen Gottes war jedenfalls sehr unangenehm. Als sechsjähriges Kind in der Trümmerwüste des Ruhrgebiets musste ich auf dem Schulweg die Behelfsbrücke über eine breite Gleisanlage überqueren. Das war, wie man mir eingebläut hatte, die „Lügenbrücke vom lieben Gott“. Der liebe Gott hat alles gesehen, was du Böses getan hast. Auch wenn du es verschwiegen hast: Gott hat es gesehen. Da kann es passieren, dass er die Lügenbrücke unter dir einstürzen lässt. Das war schwarze Pädagogik vom Feinsten – unter Missbrauch des Namens Gottes. Dabei wussten sich die Erwachsenen, die für mich verantwortlich waren, nicht anders zu helfen. Der Tod meiner Mutter und meines Großvaters, der praktisch mein Vater war, dann die Flucht aus Schlesien, alles innerhalb weniger Tage. Aus dem quirligen Kind, das ich gewesen sein soll, war ein verängstigter, verschlossener Junge geworden, der mehr als einmal zur Lüge griff, um vor den Erwachsenen zu bestehen. Die Drohung mit den Augen Gottes und der einstürzenden Lügenbrücke als Konsequenz war verständlich, aber nicht in Ordnung. Später habe ich auch die vielen Darstellungen des Auges Gottes in einem Dreieck, Symbol der Dreieinigkeit, nicht wirklich gemocht. Dieses Auge schaute mich immer noch kalt, alles registrierend an. Heute würde man sagen, wie eine Überwachungskamera, die sich niemals ausschalten lässt.

In der Bibel – und besonders im Alten Testament – ist nicht selten von den Augen Gottes die Rede. Aber eben nicht nach dem Motto „Big brother is watching you“ oder „Horch und Guck“. Die vielen Bildworte von dem hinsehenden Gott transportieren bis auf wenige Ausnahmen eine viel lebensfreundlichere Botschaft: Gott ist für dich da. Er nimmt Anteil an deinem Leben, möchte es zu einem guten Ziel führen. Gott hat einen besonderen Blick für die Leiden der Mühseligen und Beladenen. Das hat Folgen für Unterdrücker und Gewalttäter. „Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen“, mit diesem Satz, den Mose aus dem brennenden Dornbusch hört, beginnt das Unheil des Pharao und die Befreiung Israels. Auch andere Gewaltherrscher bekommen aus dem Mund der Propheten zu hören, was Gottes Augen gesehen haben. Gottes Auge ist eben keine gefühllose Überwachungskamera, sondern der Zugangsweg zu seinem Herzen für alle, die nach seiner Hilfe schreien und sich nach seiner Liebe sehnen.

Von Gottes Augen zu reden, ist menschliche Gleichnissprache. Wie könnte es anders sein! Aber die Augen Jesu sind Augen wie unsere. Und was vom Blick Jesu für die Menschen in den Evangelien zu erfahren ist, das bestätigt die Gleichnisworte von den Augen Gottes, den niemand je gesehen hat. Jesus sieht eine Menschenmenge wie beim Speisungswunder, und er fühlt mit ihnen. Jesus sieht auf die Stadt Jerusalem, und er sieht die Tage der äußersten Not kommen. Er sieht das grenzenlose Vertrauen der Männer, die ihren gelähmten Freund durch das Dach zu ihm herunter lassen. Aus diesem Bild schöpft er die Kraft, diesen Menschen zu heilen. Der Blick Jesu hat viel mit Gerechtigkeit zu tun, noch mehr mit Liebe, die Menschen hilft, ihr Leben zu ändern. Denkt nur an den Zöllner Zachäus, den Jesus auf seinem Baum entdeckt. „Die Augen des Herrn merken auf die Gerechten.“ Wir wissen, wie das gemeint ist. Gott pickt sich nicht ein paar ihm wohlgefällige Prachtexemplare aus der Gattung Mensch heraus, sondern Gerechte, das sind alle, die Gottes Zuwendung und Vergebung annehmen – so wie Zachäus auf dem Baum samt seiner nicht gerade feinen Vorgeschichte – oder auch ich und du. Für uns ist das Auge Gottes wie das liebevolle und zugleich aufmerksame Auge der Mutter. Sie lässt ihrem Kind den Spielraum und will es gleichzeitig vor Schaden bewahren. Jesus lebt uns diese Sichtweise Gottes vor. Nicht damit wir ihn dafür bewundern, sondern damit sie zu unserer eigenen wird. „Gehe hin und mach es genauso“ ist sein Fazit aus der Bildgeschichte vom Barmherzigen Samariter.

Auch wir sehen ja nicht objektiv. Und mit kaum etwas anderem wird so viel manipuliert wie mit den Bildern, die uns vorgesetzt werden. Jede Werbekampagne, jeder Wahlkampf liefert dafür Beweise in Masse. Wir sprechen von Fernseh-Demokratie. Unsere Vikarinnen und Vikare müssen in der Ausbildung vor die Videokameras, damit sie eine Vorstellung davon bekommen, wie sie auf der Kanzel aussehen. Am schlimmsten: nicht nur die Suggestion der abgebildeten Wirklichkeit kann uns in die Irre führen. Oder ein Bild der Werbung, bei der wir immerhin wissen, dass es sich um Werbung handelt. Die Technik von heute kann Lügenbilder von einer optischen Echtheit produzieren, dass unsere Augen und unsere Gefühle perfekt betrogen werden. Solange Jesus uns nicht sehen lehrt, sehen wir, was wir sehen wollen. Ich muss sehen, wo ich bleibe, sagt das Sprichwort. Ein anderes redet von der Brille, die wir von Fall zu Fall aufhaben. Jeder Richter kennt die spezielle Problematik von fragwürdigen Augenzeugen, die doch überzeugt sind, gesehen zu haben, was sie aussagen. Die Sehfehler unseres Gewissens führen bis an den Abgrund der Hölle. Die Aufseher und Aufseherinnen an der Rampe von Auschwitz haben nicht industrialisierten Massenmord gesehen, sondern einen harten, aber notwendigen Dienst am deutschen Volk.

„Gehe hin und mach es genauso“, das ist die Schlussfolgerung Jesu aus der Gleichnisgeschichte vom Barmherzigen Samariter. Das haben auch die Christenmenschen so verstanden, die die missionsärztlichen Dienste für die Behandlung von Blinden und Sehbehinderten unter den Armen der Dritten Welt aufgebaut haben (wie die Christoffel-Blindenmission). Jesus hat ja die Kraft Gottes immer wieder dazu gebraucht, Blinden das Augenlicht wiederzugeben und sie aus ihrem Bettlerdasein zu befreien. Der Sonntag Okuli ist der Tag, an dem diese Arbeit den christlichen Gemeinden vor Augen gestellt wird. Blindheit gehört ja heute zum Spektrum der typischen Armutskrankheiten. Gemeint ist die Mehrzahl aller Blinden, die nicht blind geboren sind oder ihre Sehkraft durch unbehandelbare Augenkrankheiten verloren haben. Ich spreche von den vielen Millionen, die erblinden durch leicht behandelbare Augenkrankheiten, einfach weil sie das Geld nicht haben oder weil in ihrem Lebensraum kein augenärztlicher Dienst existiert. Jeder zweite blinde Afrikaner ist am Grauen Star erkrankt und damit leicht heilbar. Darum entstehen bei den sog. Augen-Safaris, wenn der mobile Augenarzt z.B. in eine abgelegene Region des Südsudan kommt, solche herzbewegenden Hoffnungsbilder. Eine Menschenmenge von Blinden und Angehörigen, mit der Geduld der Armen wartend vor einer Grasdachhütte, bis sie drankommen mit Untersuchung und rascher Operation. Wenn im Umkreis eines einzigen Dorfes auf einmal 200 Menschen wieder sehen können, dann hat sich zugleich das Leben für 200 Familien zum Besseren gewendet.

Die Augen unseres Gottes haben dann voller Mitgefühl und Liebe auf Menschen in Dunkelheit gesehen. Und er bedient sich auch unserer Gemeinde, um ihre Augen wieder zum Leuchten zu bringen. Die Welt mit den Augen Gottes sehen. Was kann es Lohnenderes geben!

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