Jesus weint

10. Sonntag nach Trinitatis, 27. Juli 2008

Und als er nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte über sie und sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient! Aber nun ist’s vor deinen Augen verborgen. Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist.

Und er ging in den Tempel und fing an, die Händler auszutreiben, und sprach zu ihnen: Es steht geschrieben: Mein Haus soll ein Bethaus sein; ihr aber habt es zur Räuberhöhle gemacht. Und er lehrte täglich im Tempel. Aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten und die Angesehensten des Volkes trachteten danach, dass sie ihn umbrächten, und fanden nicht, wie sie es machen sollten; denn das ganze Volk hing ihm an und hörte ihn.

(Lukas 19,41-48)

Den „Israel-Sonntag“ nennen Christenmenschen, die mit unseren Gottesdienst-Traditionen vertraut sind, diesen 10. Sonntag der Trinitatiszeit. Weshalb, das ist allen unter uns klar, die die beiden Lesungen aus dem Römerbrief des Paulus und aus dem Lukasevangelium aufmerksam angehört haben. Der Israel-Sonntag konfrontiert uns mit den vielleicht schlimmsten Folgen irrender christlicher Bibelauslegung – mit der primitiv-theologischen Begründung des Antisemitismus und der Verbrechen, die nahezu in jedem Jahrhundert aus ihm entsprungen sind. Die Schuld dafür können wir weder dem Juden Paulus noch dem Evangelisten Lukas, der wahrscheinlichen kein Jude war, in die Schuhe schieben.

Paulus ist mit jeder Faser seines Herzens in der jüdischen Gemeinde verwurzelt. Er teilt ihr Bekenntnis, ihre Hoffnung, ihr religiöses Selbstbewusstsein. Deshalb tut er sich so schwer mit der Erfahrung, dass die meisten seiner Glaubensgenossen in den jüdischen Diasporagemeinden des Römischen Reiches sein Vertrauen in die Offenbarung des Messias Jesus von Nazareth nicht teilen. Man muss wohl ein so leidenschaftlicher Sohn Israels sein, um sich so bittere und zugleich hoffnungsvolle Gedanken um den weiteren Gottesweg Israels zu machen.

Und der Evangelist Lukas? Überlieferungen behaupten, er habe zu der ersten Generation von Christenmenschen gehört, die vorher keine Juden waren. Aber sein Blick zurück auf das Leben ist mitbestimmt von der religiösen und nationalen Katastrophe, die Israel mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch römische Truppen traf – eine Generation nach Jesu Tod und Auferstehung. Lukas stand unter der seelischen Notwendigkeit einer Deutung, so wie wir unsere Geschichte nicht betrachten können, ohne uns zu fragen, welchen Sinn der Untergang des Nazi-Reiches für unser Deutschsein hat. Natürlich sind die beiden historischen Vorgänge in Verantwortung und Dimension ganz verschieden. Gemeinsam ist, dass betroffene Menschen auf geschichtliche Katastrophen für sich eine Antwort finden müssen. Darum ist es verständlich, dass Lukas die Erinnerung an verzweifelte Worte über das künftige Schicksal Jerusalems besonders herausstellt.

Dabei ist Jesus ja beileibe nicht der Einzige, der vor Gott seine Verzweiflung ausschüttet, wenn er das künftige Schicksal menschlicher Gemeinschaften erahnt, die sich auf einem verhängnisvollen Weg befinden. Wir denken an Abrahams tollkühnen und zugleich verzweifelten Handel mit Gott um das Schicksal von Sodom und Gomorrha – das Schicksal von Städten, in denen es nach unseren Moralvorstellungen ungleich ärger zuging als rund um den Jerusalemer Tempel. Wir denken an die widerwillige und schließlich doch erfolgreiche Rettungsmission des Jona für Ninive – beides Ereignisse, die Jesus in seinen Reden an das Volk erwähnt. Nach Abraham, nach Jona und Jesus waren hellsichtige Menschen aller Jahrhunderte immer wieder verzweifelt, weil sie Städte und Völker als Konsequenz menschlicher Blindheit unweigerlich einer Katastrophe entgegengehen sahen. Ihre Warnungen waren den Mächtigen selten erträglich. Das Nazi-Terrorsystem trieb jedenfalls gewaltigen Aufwand, um jeden Christenmenschen mindestens ins KZ zu bringen, der gegenüber Dritten oder sogar vor einer Gemeinde einen Zusammenhang herstellte zwischen dem Hitler-Krieg und einem bevorstehenden Untergang von Stadt und Staat.

Dabei haben die verzweifelten Warner nichts zu tun mit Traktate verteilenden fanatischen Sektierern. Sie nennen keine Termine für den Weltuntergang. Sie überhäufen ihre Mitmenschen nicht mit Schimpf und Schande. Sie sind mitleidige und mitleidende Menschen. So wie der weinende Jesus. „Wenn du doch erkennen würdest, was in dieser Zeit dem Frieden dient.“

Frieden: für uns ist das ein großes Wort. Und doch, unser deutsches Wort gibt nur einen Teil von dem wieder, was das entsprechende Wort im Alten Testament enthält. Wir übersetzen das hebräische Wort „Schalom“ mit Frieden und denken unwillkürlich an das Gegenteil von Krieg. Aber um dem Gewicht von Schalom gerecht zu werden, müssten wir zugleich an Rechtsfrieden, an sozialen Frieden, an Frieden in den zwischenmenschlichen Beziehungen, an Frieden zwischen den Generationen, an Frieden für unsere Mitgeschöpfe denken. Jede Gestalt, die die Beziehungen zwischen Menschen und die unsere Beziehung zu Gott annehmen können, steht unter der Verheißung und dem Gebot des „Schalom“. Und die Verwirklichung dieses Schalom-Friedens ist Existenzbedingung der großen Stadt Jerusalem wie aller Städte und Gemeinschaften.

Jerusalem des Jahres 2008, was können wir deinen Menschen mehr wünschen als die Erkenntnis, was einem tragfähigen Schalom, auf Arabisch Salaam, dient? Und mehr noch den Wagemut, solcher Erkenntnis in der schier ausweglosen politischen Realität zu folgen.

Aber wir brauchen keinen neuen Martin Luther, um zu verstehen, dass der Name der Stadt Jerusalem auswechselbar ist – nein, dass er ausgetauscht werden muss gegen den Namen der Stadt, in der wir leben: Magdeburg, London, Peking, Rio, Kapstadt – Abertausende von Namen. Die Angst Jesu um sein Jerusalem ist nicht seine erste und letzte. So wahr er unter uns lebt, gilt seine Angst, gelten seine Tränen allen von Gott geliebten Gemeinschaften, die in unserer Zeit drauf und dran sind, die Lebensgrundlage des Schalom-Friedens zu verlieren.

Dieser Verlust kann eine Stadt auch treffen ohne die Katastrophe des Krieges. Mörderische Waffengewalt – so sehen es immer wieder die Propheten – ist nur die letzte Konsequenz eines Zerstörungsprozesses, der die Gemeinschaft schon seit langem untergräbt. Wie es den Armen geht, welche Klagen sie vor Gott bringen, in der Bibel ist das ein unmittelbarer Gradmesser für die Friedfertigkeit einer Gemeinschaft. Gott macht sich sein Bild vom Zustand der Stadt nicht aus den Hochglanzprospekten für Investoren. Er hält sich an die im Dunkeln – ob sie beten oder nicht.

Jerusalem ist nur eine von tausenden von Städten auf Erden. In Jerusalem hat Jesu Kreuz gestanden. Wenn die Errichtung dieses Kreuzes etwas mit Schuld zu tun hat, dann müssen wir die ersten sein, die jede Kollektivschuld-Phantasie tilgen, sowieso – geschweige denn, über Jahrtausende hinweg. Wie wollten wir sonst jemals für das Wohl unserer eigenen Stadt hier in Deutschland zu Gott beten? Taten unter Missbrauch des Namens Jesu haben unendlich viele Städte in den Untergang geführt, auch weil Menschen und ihre Kirchen nicht rechtzeitig „nein“ gerufen haben, wenn der Friede Gottes mit Füßen getreten wurde.

In dieser Woche ist wegen der Verhaftung des ehemaligen Machthabers Karadzic viel an den Massenmord an Tausenden muslimischer Männer im bosnischen Srebrenica erinnert worden. Die Wahrheit gebietet es zu sagen, dass sich die Serbisch-Orthodoxe Kirche ungeheuer schwer damit tut, nackten Mord Mord zu nennen und die christliche Friedenspflicht über den Nationalcharakter ihrer Kirche zu setzen.

Bis heute wissen die Kirchen in Ruanda nicht, wie sie künftig leben werden mit der Tatsache, dass etliche ihrer schmucken Kirchen beim Völkermord von 1994 von vermeintlichen Zufluchtsorten zu Schlachthäusern geworden sind. Stellt euch 200 Leichen auf dem Boden dieses Kirchenraumes vor. All dem gilt es ins Auge zu blicken. Und dennoch: das Furchtbarste bleibt der immer neue Missbrauch dieser Überlieferung von den Tränen Jesu über Jerusalem in der Verbrechensgeschichte des Antisemitismus. Bis vor etwa 200 Jahren brauchten solche Pogrome eine pseudo-religiöse Begründung. Und jedes Stadtarchiv einer Stadt mit nur etwas Geschichte liefert die Beweise – für beides, die Verbrechen und die biblisch-antisemitischen Begründungen.

Kirchen, die zur Zerstörung des Friedens Gottes in ihrer Stadt schweigen, werden zu der sprichwörtlichen Räuberhöhle. Die Verkäufer frommer Bedarfsartikel im Tempelbezirk von Jerusalem werden gar nicht gewusst haben, wie ihnen geschah, als der erzürnte Jesus über sie herfiel. Aber ihr Erlebnis erinnert uns an unsere erste Christenpflicht: für den Frieden unserer Stadt einzustehen – im vollen Sinn des Wortes. Zuerst mit dem Gebet. Und dann mit der Tat.

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