Osterbegegnungen

Ostersonntag, 23. März 2008

Aber am ersten Tag der Woche sehr früh kamen sie zum Grab und trugen bei sich die wohlriechenden Öle, die sie bereitet hatten. Sie fanden aber den Stein weggewälzt von dem Grab und gingen hinein und fanden den Leib des Herrn Jesus nicht. Und als sie darüber bekümmert waren, siehe, da traten zu ihnen zwei Männer mit glänzenden Kleidern. Sie aber erschraken und neigten ihr Angesicht zur Erde. Da sprachen die zu ihnen: Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?Er ist nicht hier, er ist auferstanden. Gedenkt daran, wie er euch gesagt hat, als er noch in Galiläa war: Der Menschensohn muss überantwortet werden in die Hände der Sünder und gekreuzigt werden und am dritten Tage auferstehen. Und sie gedachten an seine Worte. Und sie gingen wieder weg vom Grab und verkündigten das alles den elf Jüngern und den andern allen. Es waren aber Maria von Magdala und Johanna und Maria, des Jakobus Mutter, und die andern mit ihnen; die sagten das den Aposteln. Und es erschienen ihnen diese Worte, als wär’s Geschwätz, und sie glaubten ihnen nicht. Petrus aber stand auf und lief zum Grab und bückte sich hinein und sah nur die Leinentücher und ging davon und wunderte sich über das, was geschehen war.

(Lukas 24, 1-12)

„Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?“ Einer der provozierendsten Sätze in der Bibel. Was können Menschen auf dem Friedhof anderes suchen – erfüllt von Trauer und Liebe – als ihre Toten? Gewiss, sie sind gestorben, aber doch nicht ganz tot. Denn das Herz ist voller Erinnerungen, als wäre es gestern. Aber es gibt eben keine gemeinsame Zukunft mehr. Das ist der Schmerz, das Unabänderliche. Auf diesen Abschiedsschmerz gilt es Rücksicht zu nehmen, wenn wir Trauernden begegnen. „Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?“ Niemand hatte bis zu diesem Moment je ein Osterlied gesungen, eine Osterkerze angezündet; bis zu diesem Moment, als die Frage der Engel die Frauen aus der Gruppe des gekreuzigten Jesus überfällt. Sie sind zum Friedhof gegangen in rückwärtsgewandter Liebe – wie wir alle.

Der Schrecken der Frauen wird eher zurückhaltend beschrieben. Sie ziehen sich innerlich und körperlich zusammen. Sie hören die zurechtweisend klingende Frage der Gottesboten. Und als einzige Erklärung diesen Hinweis: Ihr hättet es wissen können. Denn hier hat sich nur erfüllt, was Jesus selber prophezeit hat: Leiden, Kreuzestod und Auferstehung. An diesem Morgen hat sich erfüllt, was für Jesus selbst festgestanden hat; festgestanden als Gottes Wille für sein Leben. Engel haben ja kein Geschlecht – auch wenn hier von der Wahrnehmung zweier männlicher Wesen die Rede ist. Und ein wenig wirkt es auf mich, wie wenn Männer im traditionellen Bewusstsein von Überlegenheit mit Frauen reden. Ja, und die Frauen erinnern sich an seine Worte. Frauen waren von Anfang an vollwertige Ohrenzeuginnen des predigenden Jesus. Diese Erinnerung an Jesu eigene Worte – den Eindruck vermittelt uns der Evangelist Lukas – weckt in den Frauen so viel Vertrauen in die Engelerscheinung, dass sie ihr Erlebnis umgehend der trauernden und verängstigten Jesus-Gruppe berichten. Weil sie als Zeuginnen wichtig sind, werden ihre Namen festgehalten. Sie bleiben wichtig für alle nachfolgenden Generationen. Aber sie können nicht überzeugen. Andere Evangelisten überliefern, die Frauen selbst hätten am leeren Grab Jesu der Auferstehungsbotschaft nicht geglaubt – weil ja alle Lebenserfahrung dagegen steht. Aber Lukas beschreibt es so, als hätten sich die Frauen doch als überzeugte Zeuginnen der Auferstehung auf den Weg gemacht. Aber sie ernten nur Kopfschütteln. Geschwätz! Deutlicher noch „Frauengeschwätz“.

Das Ergebnis ist dasselbe, ob nun überzeugte oder nur geschockte Frauen vom leeren Grab Jesu wegrennen: ein Leichnam, der nicht mehr an Ort und Stelle liegt, einschließlich einer Engelerscheinung reicht nicht für den Osterglauben. An keiner Stelle der unterschiedlich erzählten Evangelien ist das so. Alle Berichte vom leeren Grab samt Engelbotschaft enden in einer Sackgasse des Kopfschüttelns.

Eigentlich ist das verwunderlich, denn Totenauferweckungen als durchschlagendster Beweise der Macht Gottes in der Welt der Menschen: sie werden gar nicht so selten bezeugt, im Alten Testament schon, dann von den Jüngern Jesu – aber auch in nichtbiblischen Glaubensüberlieferungen. Fast will es mir scheinen, als hätten die Gläubigen früherer Zeitalter darauf gewartet, dass so etwas in Ausnahmesituationen geschieht. Und sei es, um den Glauben anzufachen. Wir erinnern uns. In Jesus Gleichnis bittet der verlorene Reiche Mann den Abraham, seine Brüder durch eine Auferstehungserscheinung von ihrem Mammon-Weg abzubringen.

Um es klipp und klar zu sagen: gäbe es nur die Überlieferungen von dem leeren Felsengrab, wir feierten heute nicht Ostern. Die Engelbotschaft hätte sich im Streit der Meinungen verflüchtigt wie ein Rauchwölkchen im Wind. Ostern beginnt, der Osterglaube setzt sich durch immer dann und immer dort, wo Jesus selbst den Neuanfang macht. Die Schauplätze sind verschieden: die verängstigte Trauerversammlung der Jesus-Leute hinter Sicherheitsschlössern, die Begegnung der Maria Magdalena mit dem Auferstandenen, bei der sie ihn zuerst für den Friedhofsgärtner hält, die Zwei auf dem Weg nach Emmaus mit ihrem Wegbegleiter, die Jüngergruppe am Ufer des Sees Genezareth. Und einer, der am Ostermorgen nicht dabei war, Paulus aus Tarsus, rechnet ganz selbstverständlich seine viel spätere Begegnung mit dem Auferstandenen vor den Toren von Damaskus unter die Ostergeschichten; und er redet summarisch davon, dass viele andere seiner ersten christlichen Generation ihre persönliche Jesus-Begegnung gehabt hätten. So verschieden die Umstände, so zwingend, so gesetzmäßig das Geschehen: nur die und der, denen Jesus den Osterglauben persönlich ins Herz pflanzt, wird zur Bekennerin und zum Bekenner. Der Auferstandene bezeugt sich selbst. Kein leeres Grab, selbst kein Engel in göttlicher Mission nimmt ihm das ab.

Und was immer die christliche Gemeinde an ernsthafter Autorität – Autorität, nicht Macht – wahrzunehmen hat in der Gesellschaft der Menschen und der Reiche, ist direkt und ausschließlich Auftrag des Auferstandenen: Sünden vergeben, d.h. Menschen und Gemeinschaften heraushelfen aus den Sackgassen der Schuld, Sünden behalten, d.h. Unrecht und Unmenschlichkeit beim Namen nennen, solange sie andauern. Das ist die österliche Verankerung der Orientierungsfrage, die Martin Niemöller immer wieder gestellt hat zum Christenleben in seiner Zeit, in jeder Zeit: „Was würde Jesus dazu sagen?“ Wer diese Frage ernsthaft stellt, nicht als Gedankenspiel, sondern auf der Suche nach unserem Glaubensweg, der unterstellt, dass Jesus wirklich heute spricht. Nicht was er gesagt hätte, wenn er noch leben würde. Sondern was der Auferstandene sagt, so wie die Seinen ihn reden hören: „Fürchtet euch nicht! Friede sei mit euch! So wie der väterliche Gott mich gesandt hat, so sende ich euch!“

Die Begegnungen des Auferstandenen mit den Seinen sind Quelle und Brennpunkt von allem, was Christinnen und Christen als Einzelne und was Gemeinden und Kirchen als Lebens- und Verantwortungsgemeinschaften tun oder bewusst unterlassen. Nur was der Ursprungs- und Ausgangssituation der österlichen Jesusbegegnungen gemäß ist, macht Wesen und Daseinsberechtigung der Kirche aus.

Österliche Jesusbegegnungen, wie gesagt, sind schon im Neuen Testament nicht beschränkt auf den ersten Ostertag oder den Stadtbezirk von Jerusalem. Damaskus, der Osterort des Paulus liegt im heutigen Syrien. Paulus begegnet dem Auferstandenen dort erst Jahre später. Jedes Christenleben beginnt auch heute, beginnt – oder beginnt von neuem – mit diesen österlichen Begegnungen. Entscheidend ist nicht ihre Form. Entscheidend ist die Überzeugungskraft, die Jesu Ruf in unserem Leben entfaltet.

Wahrscheinlich nimmt bei uns die Zahl der Menschen ab, deren Osterglaube wächst auf dem Boden einer glaubwürdigen, anziehenden Frömmigkeitserfahrung in der eigenen Familie (statt Visionen, wie Paulus sie erlebte), einer mutmachenden Geborgenheit in einer von der Jesusbotschaft durchdrungenen Lebensgestaltung.

Ich gehöre zu den Christen, für deren Glauben die Beispiele der furchtlosen Liebe, die von Jesus ausgeht, unentbehrlich und grundlegend sind. Unsere Welt scheint vom häuslichen Leben bis zu den globalen Entwicklungen in Politik, Wirtschaft und Lebensstil im Griff von Todesmächten zu sein. Widerstand scheint zwecklos, Widerstand gegen Einsamkeit, gegen Gewalt, Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, gegen den letzten Ausverkauf der Schöpfung. Mir begegnet der Auferstandene in allen, die auf sein Geheiß hin nicht aufgeben, dem Leben zu dienen und Liebe und Gerechtigkeit zum Maßstab der Dinge zu machen. Der Name der meisten dieser Menschen steht niemals in der Zeitung.

Das Gebet bleibt ein zeitloser Ort für Osterbegegnungen – und die Bibel selbst. Denn die Ostergeschichten haben es irgendwie an sich, sich gleichsam immer wieder neu zu ereignen. Vieles spricht dafür, dass die Geschichte von den beiden traurigen, einsamen Emmaus-Jüngern so eine Ostergeschichte speziell für unsere Gegenwart ist. Wie auch immer! Die eine Sache, auf die es ankommt: nicht hängen zu bleiben beim Grübeln über diesen groben Satz „Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?“ Sondern neugierig und offen dafür zu sein, welchen Weg der Auferstandene wählen wird, uns für seinen Auftrag zu gewinnen. Dann gibt es „Frohe Ostern“, in welcher Stunde unseres Lebens auch immer.

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