Reformation

Zum Reformationstag 31.10.2011

Reformationsfesthieß das in meiner Kindheit – ausdrücklich. Warum, das liegt für mich heute auf der Hand. Die evangelischen Flüchtlinge aus Schlesien und Ostpreu­ßen brauchten etwas, woran sie sich halten konnten, mitten unter den standfest katholischen Bauern. Ein Gegengewicht zum Fronleichnamstag, der uns Kindern unvergessliche Bilder bot.

Da waren die geistlichen Errungenschaften der Reformation eine gute Basis für das Selbstbewusstsein der neuen unfreiwilligen Gemeinschaft. Der Gemeinde, die aus so viel Verlust, Schrecken und Fassungslosigkeit hervorgegangen war. Evangelisch, gerecht allein durch den Glauben, ein freier Christenmensch ohne päpstliche Gängelei und frommes Blendwerk, das hörte sich gut an. Auch wenn sich diese Freiheit des Glaubens im Kampf gegen gegen die Teufelei der Nazis nur selten bewährt hatte. Aber das wusste ich damals noch nicht.

Ja, obwohl oder gerade weil groß geworden in einer evangelischen Minderheit, so wie es umgekehrt katholischen Kindern in Magdeburg ergeht, Reformations-Feste waren highlights, samt all den echten und den legendären Luther-Geschichten, die meine Phantasie fütterten.

Heute, hier im viel zitierten Kernland der Reformation, wo Luther höchstselbst oder wenigstens seine Co-Trainer regelmäßig vorbeigekommen sind, hier wird das Reformations-Fest, korrekt der „Gedenktag der Reformation“ seit Jahr und Tag gottesdiensttechnisch höchst stiefmütterlich behandelt. Fällt er nicht ohne unser Zu­tun auf einen Sonntag, so alle sieben Jahre wieder, dann gibt es zur Gesichts­wahrung einen zentralen Gottesdienst im Dom – obwohl die mehrheitlich konfessionslosen Regieren­den uns den traditionellen arbeitsfreien Feiertag spendieren. Warum dieser kirchenge­schichts-vergessene Skandal? Stell dir vor, es ist Reformations-Fest, und kein Evange­lischer geht hin.

Eigentlich geht es mir aber nicht um diesen Akt der Vernunft bei der kirchlichen Terminplanung. Unsere aktuelle Gleichgültigkeit gegenüber unserer Glaubensge­schichte muss tiefere Wurzeln haben.

Eine Menge politischer Feiertage aus der jüngeren deutschen Geschichte haben sich erledigt, weil ihre gefeierten Anlässe sich als z.T. schlimme, sogar entsetzliche Irrtü­mer erwiesen haben. Nehmen wir als Beispiel nur den Sedanstag, noch ein vergleich­bar harmloser Feiertag; mit Sicherheit vor 100 Jahren auch in Diesdorf mit viel Tam­tam gefeiert. Sieg über Frankreich, „Die Wacht am Rhein“, „Deutschland über alles“. Kinderherzen sollten Bilder und Botschaft aufsaugen – und doch war alles Verblen­dung und Verirrung.

Endsieg im Glaubenskrieg der Herzen: so etwas schwang auch mit in den Reformati­onsfest-Botschaften meiner Kindheit. In einer Welt ohne Islam und mit wenigen ver­schämten Konfessionslosen hieß das: Sieg über die katholische Irrlehre. Der katholi­sche Kaplan, der zu uns die Volksschule kam, meinte es natürlich umgekehrt.

Dieser aggressiven Reformationsfest-Botschaft muss man natürlich nicht nachtrau­ern, heute in unserer konfessionsübergreifenden Minderheits-Situation. Ich denke, wir tun das auch nicht.

Aber damit sind meine Fragen nicht abgehakt. Ich erinnere mich der Schilderungen der Seelennöte, durch die Martin Luther gegangen ist: wie finde ich einen gnädigen Gott? Gnädig angesichts der jenseitigen Strafen und Qualen, die damals alle Herzen gefangen hielten. Gnade oder physisch vorgestellte, tausendfach auf Altarbildern gemalte Folter. Der allmächtige Gott, dem ich nicht ausweichen kann durch formalen oder auch nur innerlichen Kirchenaustritt. Die bedingungslose Gnade dieses Gottes zu entdecken, das war Freiheit, Befreiung der Herzen.

Heutige Meinungsumfragen, ob es Gott gäbe und wie man es mit ihm halte, hätte der kluge Mann Luther schlicht nicht verstanden. Vor allem würde er, der kaum die Entdeckung Amerikas zur Kenntnis genommen hat, wohl nicht die Entmündigung nachfühlen können, die unser Leben prägt.

Was zählt der gnädige Gott, wenn Computer in Sekunden über das tägliche Brot von Millionen entscheiden? Wenn wir nur eine oder einer unter sieben Milliarden sind – wo wir schon unter tausend Menschen in Panik geraten können? Wenn es für sensib­le Seelen keinen ruhigen Tag mehr gibt, weil jedes Elend auf Erden als „breaking news“ in unserer Privatsphäre landet? Wenn Psychologie, Medizin und Sozialwis­sen­schaften uns vorbuchstabieren, welche Antriebe, Hormone, Instinkte viel mäch­tiger sind als ethische Lebensregeln?

Dem allem zum Trotz 2011 auf den „gnädigen Gott“ setzen, egal in welcher Kirche ich zu Hause bin? Ja, ohne Wenn und Aber. Ich wage die Formulierung: für uns Menschen des 21. Jahrhunderts ist der „gnädige Gott“ nicht alles – aber ohne ihn ist alles nichts.

Der jeden Tag mögliche Schuldenschnitt auf Null Prozent ohne die luftabschnürende Sparpakete, das erst macht Christinnen und Christen zu brauchbaren Helferinnen und Helfern Gottes bei der Bewahrung der Schöpfung – durch Arbeit für Gerechtig­keit und Frieden.

Der „gnädige Gott“ des reformatorischen Bekenntnisses, der Gott des bedingungs­losen Schuldenschnittes – ohne ihn ist alles nichts in Glaubensdingen. Aber es genügt bestimmt nicht, ihn mit Blick zurück zu beweihräuchern – oder ihm im Jahr 2017 Fünfhundertjahresjubiläen auszurichten.

Aus dem „gnädigen Gott“ des Katechismus muss der „Gott mit uns“ des Alltags wer­den. Das wäre, das ist die erneute Befreiung der Christenmenschen aller Konfes­sionen. Allein in einer verwüsteten Welt? Jeder gegen Jeden? Nach mir nur noch die Sintflut? Das Leben: eine ausweglose Sackgasse?

Angesichts solch aktueller Schreckensvisionen sehnt sich mein Herz nach dem Gott an meiner Seite. Ein gnädiger muss es sein. Aber er muss mir Mut machen durch seine Nähe, wie eine zuverlässige Mutter ihren Kleinen. Mut machen und bewahren. Der gnädige Gott klopft an deine Tür. Er eilt, sich mit dir auf den Weg zu machen. Ihr habt noch viel miteinander vor.

Für die Zweisamkeit des Lebens bedarf es der Stimme. Der „Gott mit uns“ muss mit uns sprechen und wir mit ihm. Er muss zu uns sprechen – muss man das extra sa­gen? – mit seiner eigenen Stimme. So, dass niemand ihm das Wort im Munde umdrehen kann. So, wie es mit jenem prophetischen Versprechen „Gott mit uns“ geschehen ist, als man es auf die Koppelschlösser der Soldaten schrieb.

Treten wir einen Schritt zurück und vergleichen. Unsere Religion entfaltet ihre Wahr­heit, ihre Wegweisung durch die menschlichen Stimmen Gottes; zu hören im Alltag verschie­dener Zeiten und Umstände: durch den Mund Jesu – zuerst und zuletzt; und durch manchen anderen Mund, den Gott zum Reden brachte. Der Gott, der redet; dessen Schweigen Menschen verzweifeln lässt.

Der Gott der redet, der Fürsprache hält für das Leben; der nicht aufgehört hat, zu reden. Ich bin davon überzeugt, dass unser Gott sich auch heute durch Menschen­mund Gehör verschafft. Einige zeitgenössische Sätze sind in meinem Leben für mich Gotteswort geworden: z.B. „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.“ Andere Glau­bens­geschwister werden von anderen neuzeitlichen Gottesworten begleitet.

Der Gott, der mit mir redet: er löst mich aus der Müllhalde der Probleme, die unsere Zeit und mein Leben zuschütten. Er schenkt mir Rückgrat, weil er es gut und persön­lich meint; weil er mich gemeinschaftsfähig und belastbar macht.

Der Gott, der mit mir redet: ihn kann ich bitten, um das, was er jederzeit bereit hält, den bedingungslosen Schuldenschnitt.

Wie finde ich diesen Gott, der mit mir redet? Martin Luther würde wahrscheinlich den Kopf schütteln? Was ist mit der Staubschicht auf deiner Bibel? So lange die da ist, brauchen wir über anderes nicht zu reden.

Der gnädige Gott, der mit uns redet. Zum Schluss eine Kostprobe, die hoffentlich Hunger macht auf mehr:

Lesung Evangelium: Matthäus 5,1-10, Seligpreisungen

Als er aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm. Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach:
Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.
Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.
Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.
Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.
Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.
Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.
Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.

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