Unter Wölfen (2)

Exaudi, 20. Mai 2012

Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe. Darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben. Hütet euch aber vor den Menschen; denn sie werden euch den Gerichten überantworten und werden euch geißeln in ihren Synagogen. Und man wird euch vor Statthalter und Könige führen um meinetwillen, ihnen und den Heiden zum Zeugnis. Wenn sie euch nun überantworten werden, so sorgt nicht, wie oder was ihr reden sollt; denn es soll euch zu der Stunde gegeben werden, was ihr reden sollt. Denn nicht ihr seid es, die da reden, sondern eures Vaters Geist ist es, der durch euch redet.

(Matthäus 10, 16-20)

Schaf – Wolf – Schlange – Taube. Ein halber Zoo, zu Sprichwörtern geronnen. Schafe unter Wölfen. Klug sein wie die Schlangen; ohne Falschheit wie die Tauben. Jesus benutzt Alltagserfahrungen mit Tieren, um seinen Jüngerinnen und Jüngern ihre Situation unter ihren Zeitgenossen vor Augen zu stellen. Genauer gesagt ihre Situa­tion als Gesandte, als Botschafterinnen und Botschafter des anbrechenden Gottesreiches.

Wie wird es uns ergehen, wenn wir unseren Glauben nicht in der Tiefkühltruhe einfrieren, sondern Jesu neue Gebote der Feindesliebe, der Gerechtigkeit, des Frie­dens beim Wort nehmen – zuerst für uns selbst – für unser persönliches Tun und Lassen, aber dann auch für die ganze Gemeinschaft, in die wir eingebunden sind – zu Hause – in unseren Ländern – überall auf diesem Blauen Planeten?

Fragen wir also die Tiere, freilich mit dem Nachteil, dass sie nicht mehr Teil unseres Alltags sind. Heute kennen wir sie eher als Darsteller in den Tierfilmen des Fernse­hens denn als Nachbarn in Dorf, Feld und Flur. Schafe unter Wölfen! Wohlgemerkt: nicht Menschen unter Wölfen. Die haben nichts zu befürchten, weil der Wolf sie seinerseits fürchtet, wie der sprichwörtliche Teufel das Weihwasser. Aber Schafe? Um ihre Herden schlichen die Rudel Nacht für Nacht – siehe Weihnachtsgeschichte. Weshalb sonst mussten die Hirten des Nachts Wache schieben bei ihren Herden? Auch der eine oder andere Bauer in Sachsen hat in den letzten fünf Jahren böse Überraschungen erlebt mit den wenigen Wölfen, die wieder unter uns uns leben.

Schafe unter Wölfen! Jesus treibt es auf die Spitze. Nicht, dass da ein Unheil passiert an einem schlecht gesicherten Pferch, womöglich ohne geeignete Hunde, denen vorsichtige Wölfe lieber ausweichen. Auch nicht wie Rotkäppchen, die zur Großmut­ter läuft, unglücklicherweise direkt Isegrimm vors Maul. Nein, kein Unglück, sondern Absicht. Jesus will sagen: wenn ihr meine Botschaft ausrichtet, dann stoßen zwei Welten aufeinander. Teilen und Mammon; Versöhnung und Verleumdung; Bewahrung der Schöpfung und Raubbau. Und das bleibt nicht ohne Folgen – für euch.

Eine Botschaft, der widersprochen wird. Nicht nur durch Gleichgültigkeit und Veräp­peln. So wie gestern, als ich während der Vorberichte zum großen Fußball­spektakel eine Verballhornung des Vaterunsers, gerichtet an den Fußballgott, zu hören bekam. Nein, kein Ruf nach dem Staatsanwalt! Aber deutsche Wirklichkeit. Mit „Schafe unter Wölfe schicken“ ist Schlimmeres gemeint; Furchtbares, das unverändert geschieht in unseren Tagen.

Wenn es um Kopf und Kragen geht, dann „seid klug wie die Schlangen“. Viel Respekt aus dem Mund Jesu für Mitgeschöpfe, die es seit Menschengedenken schwer mit uns hatten! Als Gast in Dörfern und Gemeinden in afrikanischen und asiatischen Ländern habe ich es immer wieder erlebt: erst einmal sicherheitshalber die Schlange totschlagen – und anschließend nachsehen, ob es eine giftige war oder nicht. Die Klugheit der Schlangen besteht wohl vor allem darin, sich außer Reichweite zu halten, soweit es nicht dem Nahrungserwerb dient. So dürfen wir Jesu Bild verstehen: hütet euch, wo es möglich und ehrlich ist. Martyrium ist kein Droge, sondern ein Kreuz, nach dem sich niemand drängen soll.

Und seid „ohne Falschheit wie die Tauben“. Die Tauben waren den kleinen Leuten zu Jesu Zeiten nahe, ähnlich wie die Esel. Weniger als Hobby. Mit handfester Bedeu­tung für das Glaubensleben. Denn sie waren die Opfertiere der Armen. Das, was sie sich gerade noch leisten konnten, um den Regeln des Tempelgottesdienstes zu ge­nügen. Tauben suchten sich ihr Futter zusammen auf den Feldern, ständig, aber nicht immer erfolgreich auf der Hut vor den Greifvögeln.

Ohne Falschheit? Wir wissen heute, dass Tauben einander entsetzlich zurichten kön­nen, wenn man sie in zu engen Käfigen hält – viel schlimmer als Raubvögel. Tierex­perimen­tatoren haben sie deshalb zur Fehlbesetzung für die Rolle des Friedens­sym­bols erklärt. Aber das ist natürlich Unsinn. Denn welche zwei Tauben setzen sich schon freiwillig in eine verschlossene Box von der Größe eines Schuhkartons?

Aber das tierquälerische Experiment hat vielleicht seinen Hintersinn: was ist, wenn das Klima in einer Kirchengemeinde die Herzen so einengt wie die Experimentier­box die armen Vögel? Christenmenschen, die auf engen sozialen und seelischen Raum übereinander herfallen, das ist landauf, landab schlimme Wirklichkeit.

Aber Jesus hat ja den intakten Taubenschwarm vor Augen. Er meint: Hütet euch, so wie die Tauben sich hüten. Aber wenn die Gefahr Realität wird, dann hat sie ihren Sinn; dann stellt euch. Umso mehr, wenn das Evangelium auf Macht trifft. Dann wird die Frohe Botschaft zur Schlagzeile, zum Reizwort, den Mächtigen, und denen, die unseren Gott nicht kennen, zum Zeugnis.

Fürchtet euch nicht. Schon Mose konnte und wollte nicht reden. Und er schaffte es doch, dem Herrn seiner Zeit zu sagen, was zu sagen war. Und auch euch werden die Worte gegeben werden, auf die es dann ankommt: Worte, die im Gedächtnis der Gemeinden und der Völker weiterleben.

Auch wir kennen solche Worte: „Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen“ oder „Ich habe einen Traum“ oder „Schwerter zu Pflugscharen“.

Und doch scheint es, als seien diese Vorkehrungen Jesu von unserer Glaubenswirk­lichkeit so weit entfernt wie irgend etwas. Unsere Not ist, wie es scheint, dass im sog. „Kernland der Reformation“ unsere kleinen Gemeinden leben wie eine uralte Elefantin, die im Zoo ihr Gnadenbrot bekommt, ohne Aussicht auf irgend eine Zukunft.

Darum halten wir heute fest: vielleicht sind wir ja die Pflegestation einer Weltkir­che, für die Jesu Sendungs-Coaching trotzdem aktuell ist wie eh und je. Beispiele gibt es zuhauf: da sind Friedensgemeinden in Kolumbien, die unverändert gleich drei Bürgerkriegsparteien die Gefolgschaft verweigern; da sind Christenmenschen in Nigeria, die vor der fast übermenschlichen Aufgabe stehen, angesichts organisierter Mordattacken nicht Böses mit Bösem zu vergelten; da sind Christinnen und Christen in vieler Herren Länder, die nicht schweigen, wenn Mächtige die Daumenschrauben des Hungers anziehen.

Nur wenig müsste geschehen, und auch bei uns in Westeuropa gäbe es höheren Ortes wütenden Streit um Jesus. Wenn ich mich recht erinnere, hatten wir den zuletzt im damals noch geteilten Deutschland, als es darum ging, ob wir um Gottes Willen die Zukunft der Schöpfung den Vernichtungswaffen anvertrauen dürfen.

Mir scheint, die beiden Sätze „Es ist genug für alle da“ und „Niemand isst für sich allein“ haben im 2. Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts dieselbe aufwühlende Kraft. Vorausgesetzt, wir drucken sie nicht nur auf Plakate der Aktion „Brot für die Welt“, sondern wir leben sie. So leben, dass alle Menschen leben können, dazu Schafe, Wölfe, Schlangen und Tauben, das treibt womöglich Wirtschaftsminister und Finanzmagnaten zur Raserei.

Aber es führt uns auf den Weg Jesu, auf dem wir mit vielem rechnen müssen – nur nicht damit, dass wir allein sind.

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