Vom Beten

Rogate, 17. Mai 2009


Und es begab sich, dass er an einem Ort war und betete. Als er aufgehört hatte, sprach einer seiner Jünger zu ihm: Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ihr betet, so sprecht:

Vater! Dein Name werde geheiligt.
Dein Reich komme.
Unser tägliches Brot gib uns Tag für Tag
und vergib uns unsre Sünden;
denn auch wir vergeben allen,
die an uns schuldig werden.
Und führe uns nicht in Versuchung.

Und er sprach zu ihnen: Wenn jemand unter euch einen Freund hat und ginge zu ihm um Mitternacht und spräche zu ihm: Lieber Freund, leih mir drei Brote; denn mein Freund ist zu mir gekommen auf der Reise, und ich habe nichts, was ich ihm vorsetzen kann, und der drinnen würde antworten und sprechen: Mach mir keine Unruhe! Die Tür ist schon zugeschlossen und meine Kinder und ich liegen schon zu Bett; ich kann nicht aufstehen und dir etwas geben. Ich sage euch: Und wenn er schon nicht aufsteht und ihm etwas gibt, weil er sein Freund ist, dann wird er doch wegen seines unverschämten Drängens aufstehen und ihm geben, so viel er bedarf.

Und ich sage euch auch: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan. Wo ist unter euch ein Vater, der seinem Sohn, wenn der ihn um einen Fisch bittet, eine Schlange für den Fisch biete? Oder der ihm, wenn er um ein Ei bittet, einen Skorpion dafür biete? Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben geben könnt, wie viel mehr wird der Vater im Himmel den Heiligen Geist geben denen, die ihn bitten!

(Lukas 11, 5-13)

„Betschwestern“, das war eines der ersten grob unfreundlichen Urteile über Christen­menschen, die ich als Kind registriert habe. Und Albrecht Dürers „Betende Hände“, eine meisterhafte anatomische Studie, dienten meinem Kunstlehrer, eigentlich ein frommer Mann, schon vor mehr als einem halben Jahrhundert als Anschauungsbeispiel dafür, wie aus einem Kunstwerk Kitsch werden kann – einfach indem man es unendlich oft reproduziert und in jeden denkbaren Winkel hängt. Das Gebet, Beten hat mit Imageproblemen zu kämpfen. Und kaum etwas wiegt schwerer in unserer Welt, wo Schein mehr zählt als Sein.

Dabei kann sich der Himmel eigentlich nicht beklagen. Wenn die Menschen bei Umfragen die Wahrheit sagen, verkneifen sich nur 29 % unserer Mitmenschen jedes Gespräch, ja sogar jeglichen Notschrei eines geängstigten Herzens zu Gott, wie immer sie ihn sich vorstellen – oder eben auch nicht.

Die leicht komische Statistik behauptet: 26% beten einmal oder mehrmals pro Jahr; also eher ein spiritueller Merkposten. Es folgen 18%, die sich einmal monatlich melden; 16% einmal pro Woche; und der harte Kern von 9% tut´s täglich. Solche Erkenntnisse verdanken wir heute dem Internet. Wobei sich unter Einbeziehung der Jährlinge ergibt, dass deutlich mehr Menschen behaupten zu beten, als überhaupt mit einem persönlichen Gott rechnen.

In einem Pastorenleben sammeln sich unvermeidlich eine Menge Erfahrungen und Beobachtungen mit dem Gebet anderer Leute an. Im Ruhrgebiet, wo ich die meisten meiner Jahre verbracht habe, gehörte die Allianz-Gebetswoche zum gemeindlichen Jahreskalender. Einer der Abende fand immer bei den Baptisten statt. Und unsere treuen Evangelischen erlebten dort die freie Gebetsgemeinschaft. Gebet nicht von vorn, sondern aus der Mitte der Gemeinde, in freien Formulierungen – und nicht selten recht ausführlich. Gewöhnungsbedürftig – aber doch wohl eine ur-christliche und ganz und gar nahe liegende Sache. Manche unserer Gemeinden hatten den Mut, von den Baptisten zu lernen.

Später habe ich dann dazu gelernt, dass auch das freie Gebet nicht vor Routine schützt. Ausgerechnet in Afrika, wo doch nach unseren Erwartungen in den Gottes­diensten alles lebendig und spontan sein muss. Eins ums andere Mal dieselbe Situa­tion: der Pastor gibt aus den Augenwinkeln den Befehl zum freien Gebet an ein bestimmtes angesehenes Gemeindeglied. Und dieser Christenmensch beginnt mit einer Reaktionszeit wie ein Hundertmeterläufer beim Start zu sprechen. Auch wer die Landessprache nicht kennt, hat nach einigen Sonntagen verstanden, dass diese freien Gebete voll formelhafter Wiederholungen stecken.

Manche Gebete geben sich erst nach und nach als solche zu erkennen. Ein guter Bekannter, den ich durch meine Übersiedlung nach Sachsen-Anhalt aus den Augen verloren hatte, schickt vor einigen Monaten eine Gruppen-E-Mail heraus, auch an mich. Darin ein Bericht, mit welchen Konsultationen und Behandlungsmethoden seine Frau und er gegen ihre Krebsdiagnose angehen; worauf sie hoffen und dass sie um das Gebet der Leserinnen und Leser bitten. Ich habe die nun schwer kranke Frau meines Bekannten so gut wie nicht gekannt. Aber ein erbetenes Gebet verweigert man nicht – nicht wahr? Etwa in Monatsabständen gingen weitere E-Mails ein: über das Auf und Ab eines Leidensweges – bis vor ein paar Tagen eine neue E-Mail ankam. Betreff: letzter Krankheitsbericht „Elisabeth ist heute um 17 Uhr zu Gott heimge­kehrt.“ Wenn diese E-Mail-Serie kein Gebet war, was dann? Und ich bin überzeugt: dies Gebet wird in der Trauer Kraft geben.

Aber zurück zu den Betschwestern. Ich habe welche getroffen. 1986 auf der anderen Seite der Erde, auf den Philippinen. Es ging um die friedliche Ablösung des Diktators Marcos und um die Gewissensgefangenen in den Gefängnissen des Landes. Nonnen wollten in den Straßen von Manila eine mächtige Demonstration anführen, um Frei­heit für die Gefangenen zu fordern. Aber niemand konnte wissen, ob der Diktator schießen lassen würde. Ich gehörte damals zu einer ökumenischen Beobachter­grup­pe. Einige Demo-Erfahrungen brachte ich mit. Die westdeutsche Friedensbewegung war meine Schule gewesen. So zurückhaltend, wie es sich gehört, fragte ich bei einem Planungstreffen nach dem Konzept der Ordensfrauen für ihr äußerst riskantes Vorhaben.

Mit einem bezaubernden Lächeln, das philippinische Nonnen mit ihren Geschlechts­ge­nossinnen gemeinsam haben, antwortete mir die Sprecherin der Planungsgruppe: „Wir werden vorher beten.“ Kein Wort mehr, obwohl sie natürlich schon manchen Konflikt mit der Diktatur hinter sich hatten. Sie haben gebetet, energisch, und sie haben den Demonstrationszug angeführt, unerschrocken. Das Militär hat nicht geschossen. Im einzigen volkskirchlich-christlichen Land Asiens Nonnen nieder­mähen, das ist natürlich machtpsychologischer Wahnsinn. Aber hinterher ist gut reden. Nicht allzu weit entfernt, drei Jahre später auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking gab es in vergleichbarer Situation ein entsetzliches Blutbad.

Manila 1986. Solche „Bete und arbeite“-Geschichten wüsste ich viele zu erzählen aus den guten Kämpfen der Armen und Unterdrückten im Süden der Welt. Und ihr könntet dem zugezogenen Westdeutschen wahrscheinlich „Bete und arbeite“-Geschichten aus der Zeit vor zwanzig Jahren erzählen. Gebet, Friedensgebet, beileibe nicht nur trickreiche Tarnung für konterrevolutionäre Aktivitäten; nein, wirklich Vergewisserung des Gewissens und Kraftquelle.

„Bete und arbeite“, lateinisch „Ora et labora“. Stellen wir uns vor, ein Reporter wählte diese Schlagzeile für einen Bericht über das Wirken Jesu: er träfe den Nagel auf den Kopf. Wiederholte knappe Anmerkungen in den Evangelien „Er ging an einen ein­samen Ort, um zu beten, ganz allein.“

Gebet unter Angstschweiß im Garten Gethsemane; Stoßgebete bei Heilungen; bei der Speisung der Menschenmenge. Die liturgischen Gebete der jüdischen Gemeinde und das freie Gebet, das seine Vollmacht erneuert, im Namen Gottes freizusprechen und zu helfen. Jesus ohne Gebet, das wäre wie ein Segelschiff ohne Segel.

Beten, wie geht das? Jesus hat klare Vorstellungen und macht sie für seine Leute zur Richtlinie: Rücke deinem Gott auf die Pelle, wenn du ihn brauchst. Anders ist das sog. Gleichnis vom bittenden Freund nicht zu verstehen. Bei mir selbst müsste es schon sehr dicke kommen, wenn ich zu nachtschlafender Zeit einen noch so freund­lichen Nachbarn aus dem Bett klingeln sollte, nur damit ich mein Gesicht als Gast­geber wahren kann. Das Gebot der Gastfreundschaft hin oder her, hier wird Gast­freundschaft praktiziert um den Preis der Rücksichtslosigkeit. Jesus vermittelt den Eindruck, dass unser Gott sich regelrecht rumkriegen lässt von bittenden Menschen; dass er schließlich nicht anders kann, als einzugehen auf ihre eigennützige Hartnäckigkeit.

„Bittet, so wird euch gegeben. Klopft an, dann wird euch aufgetan“, lautet die Nutzanwendung.

Auch die zweite Richtlinie ist ähnlich nüchtern: macht nicht unnötig viele Worte. Es gleicht fast einer Karikatur, wie Jesus das öffentliche Beten um des Betens willen charakterisiert. Beten, sagt er, ist ein tête à tête zwischen dir und deinem Gott, und darum ist das sprichwörtliche stille Kämmerlein der am besten geeignete Ort. Nicht, dass Gott keine Zeit hätte, wie ein Präsident, der nur knappste Notizen lesen kann. Nein, Gott hat sich längst alle Zeit der Welt genommen für dich, für euch. Er weiß, was ihr ihm sagen wollt – und möchte es trotzdem hören als Beweis eures Vertrau­ens.

Darum sollt ihr so beten, fordert Jesus auf, und spricht die Worte des Vaterunser vor. Ein knappes Gebet, ein bisschen wie eine Checkliste. Wollte man seine Struktur sichtbar machen, müsste man ein Kreuz zeichnen: Himmel und Erde; die Beziehun­gen zu meinem Gott und zu meinen Mitmenschen sind das Anliegen. Der Gott, der Liebe und Achtung verdient, weil er für seine Schöpfung da ist, ganz nahe, wirklich Anteil nehmend und Freiheit lassend. Der Gott, der Zukunft schenkt: „Dein Reich komme.“

Das Tägliche Brot, Schuld loswerden, den Versuchungen widerstehen – alles was nötig ist, damit persönliches und gemeinschaftliches Leben gedeihen kann, sollen wir in der Mehrzahl erbitten. Unser Tägliches Brot, unsere Schuld, unsere Versuchungen. Von den Anfängen unserer jüdisch-christlichen Glaubensüberlieferungen an war immer der Bund Gottes mit seinem Volk Herzstück der Verheißung. Jesus bestätigt das mit seiner Wort­wahl. Und jede Gemeinde – auch eure – ist darum Treuhänderin dieses Lebensbundes. Jede Christin und jeder Christ hat deshalb mehr zu tun und mehr zu hoffen, als nur auf das Heil der eigenen Seele.

Gebet ist das Segel, das den Wind, den Lebensatem einfängt für unser Glaubensle­ben. Darum hoffe ich, dass die Praxis, die Ausgestaltung des Gebets der Gemeinde auch Gegenstand eurer Planungen im Gemeindekirchenrat ist – wie der Finanz­haushalt. (Beispiele)

Bete und arbeite: kein Arbeitsvorhaben, ohne dass es auf dem Prüfstand des Gebetes gestanden hätte; kein Gebet, ohne dass wir zu hören versuchen, auf welche Wege des Lebens Jesus uns schicken will.

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