Zum Tag des Flüchtlings

16. Sonntag nach Trinitatis, 26. September 2004

Als sie aber hinweggezogen waren, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum und sprach: Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir’s sage; denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen. Da stand er auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich bei Nacht und entwich nach Ägypten und blieb dort bis nach dem Tod des Herodes, damit erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht (Hosea 11,1): „Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.“ Als Herodes nun sah, dass er von den Weisen betrogen war, wurde er sehr zornig und schickte aus und ließ alle Kinder in Bethlehem töten und in der ganzen Gegend, die zweijährig und darunter waren, nach der Zeit, die er von den Weisen genau erkundet hatte.

(Matthäus 2, 13 ff)

Gehen Flüchtlinge uns etwas an? Wir können viele Worte darüber machen – oder einfach diese Geschichte auf uns wirken lassen. Vom ersten Lebenstag an ist das Kind Jesus mit hineingerissen in Gewaltpolitik und Blutvergießen seiner Zeit. Herodes ist auf furchtbare Weise „normal“ – nicht schlimmer als Hitler, Stalin oder Saddam Hussein. Aber er hatte als ein von Rom abhängiger Regionalfürst weniger Macht, zu herrschen und zu morden. Für seine Opfer macht das freilich keinen Unterschied. Schrecklich normal, schrecklich menschlich beginnt Jesu Leben. Das werden alle bestätigen, die ihre Kinder mit auf eine Flucht nehmen mussten. Kein Tag der Geschichte, jedenfalls keiner seit 1945, an dem sich dieses Kinder- und Elternschicksal nicht wiederholt hätte. Deshalb ist der „Tag des Flüchtlings“, in dieser Woche begangen im Rahmen der sog. Interkulturellen Woche, für uns ein wichtiger Tag der Besinnung und des Gebetes.

Wenn´s nach den Klagen derer geht, die unser Land am liebsten flüchtlingsfrei halten würden, müssten sich Maria und Josef mit ihrem Kind eigentlich nach Magdeburg auf den Weg machen. Alle Flüchtlinge wollen doch nach Deutschland. Aber sie wählen den Weg nach Ägypten. Verzeiht mir diese etwas alberne Anmerkung, aber es muss gesagt werden: die aller-allermeisten Flüchtlinge unserer Tage fliehen nicht aus der Armut in den Wohlstand – sondern aus bitterer Armut in noch bitterere Armut. Aus armen Ländern, in denen sie immerhin ein hart erarbeitetes Auskommen hatten, in Länder, die manchmal soviel Flüchtlinge aufnehmen müssen, wie sie selbst Bürger haben. Davon kriegen wir nur dann etwas mit, wenn wir über die Spendenaufrufe der Diakonie-Katastrophenhilfe stolpern – und hoffentlich nicht nur stolpern. Viele Millionen Flüchtlinge erscheinen noch nicht einmal in den Statistiken der UNO. Wer sich im eigenen Land irgendwie in Sicherheit zu bringen versucht, ist nur ein sog. interner Flüchtling. Der riesige Sudan ist derzeit das unrühmliche aktuelle Beispiel. Interne Flüchtlinge sind überhaupt nicht mitgezählt, wenn Kofi Annan seine Zahlen veröffentlicht.

Die Heilige Familie tat wirklich gut daran, nicht nach Deutschland zu kommen. Denn nach unserer Verwaltungspraxis und unseren Gerichtsentscheidungen ist es mehr als fraglich, ob sie hier Asyl bekommen hätten. Was kann Josef den Beamten denn schon erzählen? Von einem Mordbefehl an die Geheimpolizei des Herodes hat er gehört. Und ein Traum – stellen Sie sich vor, ein Traum – hat ihm Gewissheit gegeben. Da ist er aufgesprungen und mit den Seinen noch in der Nacht losgerannt. Kurz darauf sind in der Gegend wirklich ein paar Dutzend Kleinkinder willkürlich ermordet worden. Aber wo ist der Zusammenhang? Mr. Josef, können Sie beweisen, dass das Ganze tatsächlich was mit Ihrem Jungen zu tun hat? Aber um Himmels willen keine Träume!

Nein, unser Flüchtlings-Abschreckungsrecht ist heute ein hoch wirksames Instrument. Und inzwischen machen die Länder der EU längst gemeinsame Sache. Deshalb lautet das Motto für den „Tag des Flüchtlings“ 2004 auch „Europa macht dicht“. (Fragen Sie unsere neue Vikarin; sie ist ja die zuständige Fachfrau der Kirchenprovinz Sachsen.) Europa versucht dicht zu machen. Aber selbstverständlich klappt das nicht. Die jährlichen Erfolgszahlen unseres Innenministers über noch weniger Flüchtlinge als im Vorjahr sind nichts als eine jämmerliche Augenwischerei. Es kann ja auch gar nicht anders sein. Fragt die Menschen, die vor den Nazis zu fliehen versuchten. Erinnert euch der Energie, mit der viele raus aus der DDR wollten. Nicht anders sind die Menschen anderswo auf der Welt. Not kennt kein Gebot. Wir können sagen: für uns, Deutschland, zählen nur die Flüchtlinge, die sich brav bei den Behörden melden. Und die schicken wir dann zu nahezu 100% zurück und nennen es einen Erfolg. Aber damit dränge ich die Flüchtlinge, die sich früher gemeldet hätten, nur in die Illegalität. Unter uns leben Hunderttausende und in EU-Europa sind es Millionen, die es offiziell gar nicht gibt und geben darf. In Deutschland nennen wir sie verächtlich „Illegale“. Von illegal zu kriminell ist es nur ein kurzer Gedankensprung. Die Franzosen sind näher an der Wirklichkeit und sprechen von den „sans papiers“, den Menschen ohne Papiere. So wird ein Schuh daraus.

Ohne Papiere in Deutschland, das heißt: Du darfst niemals krank werden. Du kannst niemals anders als schwarz arbeiten. Du musst jeden Polizisten auf sichere Entfernung erkennen – vor allem, wenn man dir die ferne Heimat ansieht. Du kannst deine Kinder nicht zur Schule schicken. Du kannst keinen normalen Mietvertrag abschließen. Die Liste ist endlos. Und heraus kommt jedenfalls kein Leben, um das wir irgendeinen der Betroffenen beneiden sollten. Weil das so ist, weil die Heilige Familie bei uns wohl in die Illegalität geriete, ist es so nötig, dass christliche Gemeinden in Deutschland in Einzelfällen sog. Kirchenasyl organisieren. Das ist für alle Beteiligten eine große Herausforderung. Und ich kenne Gemeinden, die dadurch auch in bittere innere Auseinandersetzungen geführt worden sind. Aber ich bin davon überzeugt: wir sind es der Politik und unserem Land schuldig, anhand konkreter Einzelschicksale das Nachdenken darüber wachzuhalten, was wir eigentlich tun, wenn wir unser Land letzten Endes von Flüchtlingen frei halten wollen; wenn Behörden jede Abschiebung als Erfolg werten und jede Gerichtsentscheidung zugunsten eines Flüchtlings als Niederlage.

Es ist nicht nötig, von den wenigen jungen Männern zu reden, die in Deutschland tatsächlich schwere Straftaten begehen. Für die gelten Strafgesetze, wie tragisch ihr Lebensweg auch sein mag. Reden wir von den 98% oder wieviel Prozent auch immer. Reden wir von dem 21-jährigen sudanesischen Christen Immanuel Tout, den ich beerdigt habe, nachdem er sich im Abschiebegefängnis das Leben genommen hatte. Angesichts der bevorstehenden Abschiebung in ein Land, wo er bereits im Gefängnis gesessen hatte, haben einfach seine Nerven versagt. Er hatte eine feste deutsche Freundin, war auch in ihrer Familie willkommen. Er hatte Arbeit, sogar ganz legale. Er kostete den Steuerzahler also keinen Pfennig Sozialhilfe, die es damals noch gab. Aber die Beamten des zuständigen Landkreises entdeckten Paragraphen, nach denen er zu verschwinden hatte. Seine Familie im Bürgerkriegsgebiet des Südsudan weiß womöglich bis heute nicht, wo ihr Sohn geblieben ist. Sein Grab in meiner früheren Heimatstadt ist heute so etwas wie ein Erinnerungsort an die unmenschlichen Folgen ganz legaler Behördenpraxis. Jährlich an seinem Beerdigungstag beten dort Christenmenschen unterschiedlicher Konfession. Und in seiner Heimat fliehen jeden Tag aufs neue Menschen vor Mord und Totschlag – wie die Heilige Familie.

Trotzdem, mögt Ihr denken, bis zu uns müssen sie ja nicht kommen! Lieber 20 € für die Diakonie als die Vorstellung von drogenhandelnden Scheinasylanten in unserer Stadt. Nochmal: überlassen wir den wirklichen Drogenhändler der Polizei und wenden uns noch einmal den vielen Singles und Familien zu, die das Schicksal der Heiligen Familie teilen. Und lassen wir den Verstand sprechen, der ja zu den guten Gaben Gottes gehört. Machen wir uns frei von der vergiftenden Illusion, in einer Welt voller Fluchtgründe könnte es ein Deutschland frei von Flüchtlingen geben. Zumal wir mit der Schaffung von Fluchtgründen mehr zu tun haben, als uns lieb sein kann. Ein einziges Beispiel: Solange deutsche Waffen haufenweise in die Hände politischer Unholde geraten, gehen uns die humanitären Folgen unmittelbar an.

Aber kann man uns nicht wenigstens diese nervenaufreibenden Bilder von den vollgestopften Nuss-Schalen im Mittelmeer ersparen? Nein, wir müssen mit diesen und ähnlichen Bildern leben. Zu viele Menschen halten es mit den Bremer Stadtmusikanten. Wie sagen Esel, Hund, Katze und Hahn, als man ihnen das Lebenslicht ausblasen will? „Lasst uns nach Bremen gehen. Etwas Besseres als den Tod finden wir überall.“ Dieser Entschluss war lebensrettend und ist es unterm Strich für viele Mitmenschen bis heute. Diese Überlebensenergie gehört zweifellos zu den Schöpfungsgaben, die wir brauchen. Denken wir umgekehrt nur an die tragische Selbsttäuschung unserer jüdischen Landsleute, die sich nicht vorstellen konnten, dass hinter den Mordparolen der Nazis wirklich mörderische Entschlossenheit steckte.

Europa macht dicht. Seine Politiker versuchen es jedenfalls, weil sie meinen, uns damit zu gefallen. Wir Christenmenschen sind dankbar dafür, dass Ägypten damals nicht dicht gemacht hat. Und wir wissen, wie Jesus es auf den Punkt bringt. Er sagt: „Ich bin fremd gewesen, und ihr habt mich aufgenommen.“

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