70 Jahre nach Hiroshima: erneut auf atomare Abschreckung setzen?

Eigentlich geht es mir um den 5. August. An diesem Tag möchte ich möglichst viele Nachbarinnen und Nachbarn für eine Demo gewinnen. Aber in reichlich fünf Monaten, von heute an gerechnet, kann noch eine Menge passieren. Sowieso, aber auch konkret in der lebensbedrohlichen Welt der atomaren Massenvernichtungswaffen. Um die geht es. Denn in der Nacht vom 5. auf den 6. August kehrt zum siebzigsten mal die schreckliche Stunde wieder, in der die erste im Krieg abgeworfene Atombombe die Stadt Hiroshima verbrannte. 70.000 Menschen starben sofort, weitere hunderttausende in den Stunden, Tagen, Jahren, Jahrzehnten danach. Die Verbrannten von Nagasaki teilten ihr Schicksal.
Fünf Monate sind nicht zu wenig, um die Beteiligung möglichst vieler Menschen in Magdeburg und Umgebung an einer weltweiten „Nacht der 70.000 Kerzen“ anzuregen und praktisch vorzubereiten.

Aber fünf Monate im gewalterfüllten Jahr 2015 sind womöglich eine zu lange Frist, um heute schon zu wissen, wie hautnah der Horror atomarer Drohgesten den Zeitgenossen 70 Jahre nach Hiroshima auf den Seelen lasten könnte. Aus dem vorübergehenden Atomwaffenmonopol der Truman-Administration gegen Ende des Zweiten Weltkriegs ist ja ein brisantes Sammelsurium von Konfliktherden geworden, die jeder für sich verheerende Streuwirkungen auslösen können. Die Landkarte der anerkannten, der inoffiziellen und der Möchte-gern-Atommächte erinnert mich fatal an die drastischen Zeichnungen von den mit Beulen übersäten Leibern mittelalterlicher Pestkranker.

Da mag Nordkoreas Babyface-Diktator auf der Weltbühne eher noch den schrägen Vogel geben. Er tut es mit zündender Bomben-Rhetorik und militärischen Ideen, die alle rechtzeitig wieder eingefangen werden wollen.
Die Drohkulisse, die die Verhandlungen um einen Verzicht des Iran auf die Bombe begleiten, verheißt überhaupt nichts Gutes für das 70. Jahr nach Hiroshima. Ein ganzes Rudel Atommächte sitzt da am Tisch. Und im Hintergrund prüft die Atommacht Israel unausgesetzt ihre Optionen.

Indien und Pakistan sind aus einer ganzen Latte von Gründen nicht davor gefeit, eines schlimmen Tages in ihren ersten Krieg mit Atomwaffen in der Hinterhand zu schlittern. Die einschlägige Atomwaffen-Logistik wird von den Generälen beider Mächte seit Jahren gern bei den großen Paraden spazieren gefahren.
Klar doch, im Kreml, in Kiew, im Weißen Haus, im Bundeskanzleramt, im NATO-Hauptquartier überall gibt es rote Linien noch und noch, die perfekten Sicherheitsabstand zu jedem kriegerischen geschweige den atomaren point of no return garantieren sollen. Andererseits habe ich aus Abgeordneten-, Senatoren-, Minister-, „Experten-“-Mündern in den letzten Monaten immer wieder Ideen und Forderungen gehört, die mich doch sehr an Schulhof- oder Kneipen-Konflikte erinnern. Nur dass die in der Regel schlimmstenfalls mit einem gebrochenen Nasenbein enden. Auch im Ukraine-Konflikt gilt „Murphys Law“: die Zahl der Kriege, die keiner gewollt hat, könnte sich um einen letzten verlängern.

Bei alledem treffen wir unser eigenes Land eher in vermittelnden Nebenrollen an bzw. im Bemühen, so wahrgenommen zu werden. Allerdings, eine Eiserne Ration an einsatzfähigen US-Atomwaffen ist bis heute im Lande verblieben. Deutsche Piloten üben weiterhin, sie ihren finalen Zwecken zuzuführen. Und wir alle sind eingeladen, uns erneut hinter die Barrikaden der unseligen atomaren Abschreckung zu ducken, wenn der Feind endgültig wieder im Osten gesichtet wird.

Will ich meine Zukunft, wichtiger: die meiner Enkel, tatsächlich dem obskuren Schutz durch Kriegsbereitschaft und Massenvernichtungswaffen anvertrauen, oder nicht? Die Frage der 1980er Bürgergeneration, insbesondere auch der Christenmenschen unter ihnen, verlangt eine neue persönliche Antwort von jeder und jedem – am besten noch vor dem Hiroshima-Jahrestag.

Wie jedes Jahr! Denn nicht Jahrestage zählen, sondern das, was lebensbejahende Menschen tun und lassen, um Einsatzbefehlen wie dem vom 5. August 1945 die Grundlage und den Gehorsam zu entziehen. Das Recht, sich – ohne Schamröte im Gesicht – der Verbrannten zu erinnern, will Jahr für Jahr neu verdient werden – im konkreten Kampf gegen Verbreitung, Besitz und Einsatzplanung der Atomwaffen und alles, was als Geißel der Menschheit und der ganzen Schöpfung hinzukommt.

Die Kerzen werden dann hoffnungsvoller leuchten – in den Augen der Betrachter.

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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