Der Schrecken der vierten Generation

 

Die Nachricht geht unter die Haut. Ein Mann geht zur Arbeit, in den ersten Tagen des Jahres 2014. Er setzt sich auf seinen Bagger, um Bauschutt vom Fleck zu bewegen – und wird von einer Luftmine aus dem Zweiten Weltkrieg zerrissen. Der Tote scheine den „Wohnblockknacker“, wie so etwas seinerzeit genannt wurde, wohl „übersehen“ zu haben, urteilt ein Berichterstatter etwas unbeholfen.

 

Unser verunglückter Mitbürger war Baggerfahrer in einem Gewerbegebiet, kein Spezialist vom Kampfmittelräumdienst. Weder er noch der Reporter haben vor 70 Jahren, 1944 auf dem Höhepunkt der Flächenbombardements, Luftminen einschlagen hören. Wer 2014 berufstätig ist, kennt weder den Horror in den Kellern noch die Angst vor herum liegenden Blindgängern in den Tagen danach. Gott-sei-Dank ist das so. Wann hatten wir das je in unserer nationalen Geschichte: 70 Jahre ohne Krieg?

 

Aber dann werden wir Deutschen eins um das andere mal brutal gepackt, ohne Vorwarnung, durch Unglücke wie dieses in Euskirchen. Hat das denn nie ein Ende?

 Menschen, die mit der Bibel leben, kommen dann kaum an dieser Gedankenverbindung vorbei: „Ich will die Sünder Väter heimsuchen bis in die dritte und vierte Generation…“ So lautet erste Teil einer göttlichen Willensbekundung bei der Proklamation der Zehn Gebote.

 „Sünden der Väter“ Lohnt es wirklich noch die Diskussion, dass sich die Nazi-Gefolgschaft unserer Lieben, deren Gesichter wir in unersetzlichen Fotoalben betrachten, in der Summe als große Schuld erwiesen hat? Sünde der Väter! Und die Mütter? Sie standen nicht abseits, wenn der Ver-Führer kam. Allzu viele hielten ihm leidenschaftlich ergeben ihre Kinder entgegen. Später dachten sie sich höchstens ihr Teil, als die jüdischen Nachbarn abgeholt wurden oder als die Kolonnen der Zwangsarbeiter zu den Fabriken getrieben wurden.

 Die Bomben und Luftminen von 1944, von alliierten „Terrorfliegern“ abgeworfen, waren die tödliche Frucht einer mörderischen Saat. Auch bei diesem Teilaspekt des Krieges steht am Anfang ein hasserfüllter Satz in unserem Namen und in unserer Sprache: „Wir werden ihre Städte ausradieren!“

 Aber selbst die Kinder der Bombennächte von 1944 ziehen inzwischen in die Altersheime ein. Und die Jüngeren, ob Politiker, Journalisten, ob einer wie der unglückliche Baggerfahrer, oder alle meine Kinder und Enkel, sie fragen sich, was sie persönlich mit diesem Verbrecher-Krieg aus dem Geschichtsbuch noch zu tun haben.

 Die 3.000 Jahre alte Willensbekundung, was die „Sünden der Väter“ und ihre Folgen angeht, kann die nicht trösten, die um das absurd verspätete Bombenopfer trauern,. Es ist kein Trost in diesem Ruf Gottes, hinein in die vergehende Zeit; auch nichts, was wir gerecht nennen könnten, wenn es unser Leben träfe.

 Aber es ist auf schreckliche Weise wahr, ob wir nun den unergründlichen Willen Gottes als Ursache anerkennen, oder eine unbeherrschbare historische Kausalkette.

 Wer sich für die Stimme des biblischen Gottes entscheidet, bleibt mit dem unerbittlichen Halbsatz über Enkel und Urenkel nicht allein. Der Stifter des Lebensbundes muss das sagen, aber das andere, das, was folgt, sagt er viel lieber: „Ich bin dein Gott, der Abertausenden seine Barmherzigkeit erweist, denen, die mich lieben und meine Gebote halten.“

 Gottes Barmherzigkeit ist der Normalfall des Lebens. Und Liebe ist das Enzym, das diese Barmherzigkeit aufschließt, sie nutzbar macht für unser Leben, – dennoch.

 

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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