Resistenzen: Mutter Natur kennt keine totalen Siege

Auf unseren Komposthaufen sind wir stolz. Denn da rotten nicht nur eine Handvoll Kartoffelschalen und verwelkte Schnittblumen vor sich hin. Unser Komposthaufen nimmt die Bioabfälle mehrerer Familien und eines kleinen Tagungshauses auf und verwandelt sie Jahr für Jahr in wohlriechenden Kompost, der an vielen Stellen auf dem großen Grundstück von Nutzen ist. Das wir richtig liegen bzw. richtig lagern, merken wir nicht zuletzt an unserem direkten Nachbarn. Ein schwieriger Herr, der sich kaum eine Bagatelle entgehen lässt, einen Alltagsstreit vom Zaun zu brechen. Aber den gewichtigen Komposthaufen nahe der Grundstücksgrenze hat er noch nie skandalisiert. Er riecht ihn einfach nicht.
Dabei steht der Komposthaufen eines Nachbarn hierzulande schnell unter Generalverdacht, als Rattenmagnet. Wer einen Komposthaufen führt, führt angeblich zugleich ein Attentat auf die Volksgesundheit im Schilde. Die ehrbare Gilde der Kammerjäger wiegelt zwar ab. Wer keine Fleischabfälle auf den Kompost wirft, lädt auch keine Ratten ein. Aber weil wir Menschen ein Elefantengedächtnis haben, sitzt unsere Rattenphobie tief.
Diese Viecher waren es doch, die unseren Kontinent – nach Prozenten der Bevölkerung gerechnet – schlimmer verwüstet haben, als die Weltkriege zusammen. Ratten und Pest gingen zusammen. Das war das furchtbar bezahlte Erfahrungswissen unserer Vorfahren seit der Mitte des 14. Jahrhunderts. Noch vor der Erfindung des Mikroskops, konnten sie nichts vom Rattenfloh wissen und erst recht nichts vom Pestbakterium, das der Floh überträgt. Nur die Ratte als sichtbarer Teil des Verderbens wurde fester Bestandteil unseres inneren Gruselkabinetts.
Wann der letzte Deutsche an der Pest gestorben ist, weiß ich nicht. Vermutlich hat sich das nicht hier ereignet, sondern irgendwann in der jüngeren Neuzeit, irgendwo, wo die Pest bis heute auftritt. Vielleicht also im menschenreichen Südasien. Dort ist die Pest heute eine ausgesprochene Armenkrankheit. Sie rafft Menschen dahin, die nicht rechtzeitig die modernen Antibiotika bekommen oder sie nicht bezahlen können.
Also können wir eine der indirekt von Ratten übertragenen Krankheiten von unserer Sorgenliste streichen – die schlimmste von allen?
Das dachte ich bis vor Kurzem. Bis ich erfuhr, dass die ländlichen Gesundheitsdienste im Inselstaat Madagaskar in einem mühseligen Abwehrkampf gegen die Pest stehen. Die Ratten, von Überschwemmungen in die Dörfer getrieben, transportieren das Bakterium zu den Menschen, wie immer. Aber immer mehr Infizierte sind im letzten halben Jahr an der Pest gestorben, weil die Antibiotika nicht mehr anschlagen. Das Bakterium hat verhängnisvolle Resistenzen entwickelt. Und was die Ratten angeht, werden auch die gegen immer mehr Gifte, mit denen wir ihnen ans Leben wollen, immun. Die Kammerjäger wissen ein Lied davon zu singen. Auch die Nager entwickeln eine Resistenz nach der anderen. Ein Naturgesetz ist das. Es lässt sich nicht ausmerzen wie ein Computervirus. Der Vorgang wiederholt sich unausgesetzt, einfach, weil die Evolution so und nicht anders funktioniert.
Natürlich weiß ich nicht, ob die Infektionskette der Pest in unseren Multi-Millionen-Gesellschaften noch einmal aktiv werden wird. Unlogisch, einfach verrückt ist so ein Szenario freilich nicht.
Wer in naturwissenschaftlich-technischem Allmachtswahn zur totalen Vernichtung all dessen ansetzt, was der Mensch auf Erden nicht dulden will, darf sich nicht wundern. Weil die Evolution keine totalen Siege kennt, versetzen uns die Gegenattacken der Resistenten, ob Nager, Bakterien, Viren oder Unkräuter, in Schockstarre. Eines Tages kann es sogar um unsere Exitenstenzgrundlage gehen.
Die vernünftige, weniger totale und aufs ganze gesehen zukunftsfähigere Aufteilung von Lebensräumen und Lebenschancen ist das Gebot unserer Tage. Ihr unausrottbaren Ratten dort, wir im do-it-yourself-Vefahren durchaus ausrottbaren Menschen hier, das wäre so ein Interessenausgleich. Darum müssen wir leider jeder froh gelaunten Gästegruppe wieder unter die Nase reiben: Hühnchengerippe gehören nicht auf den Kompost. Dann bleibt auch unser Nachbar ein angenehmer!

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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