Der Tag davor

Fastenaktion 2013, 10.März

Die Kalender, die wir als Orientierungshilfe über die unermessliche Zeit gelegt haben, zeigten den 10. März 2011 an, einen Donnerstag. Ob der Volksaufstand gegen den libyschen Diktator Gaddafi auch in Japan die Titelseiten der Zeitungen beherrschte, weiß ich nicht. Im Nachhinein wissen wir alle, was damals niemand wissen konnte: wenige Schiffsstunden von der Küste Japans entfernt erreichten zwei der gigantischen beweglichen Platten, die die äußere Erdhülle bilden, wieder einmal jenen Druck- und Spannungszustand, der unausweichlich zur Entladung führt.

Messgeräte und menschliche Sinne registrieren tags darauf ein Erbbeben, in diesem Fall ein Seebeben. Keines von den ungezählten leichten, bei denen sich in Japan kaum der Tee in der Tasse kräuselt. Es würde das viertstärkste werden, das Menschen bisher gemessen haben. Beben und Tsunami, die beiden Naturgewalten, lösten den Zusammenbruch der stolzesten Technologie aus, auf die alle mächtigen Nationen ihre Zukunftspläne gegründet haben. Den Namen der Atomruine Fukushima können inzwischen Menschen in aller Welt buchstabieren.

Wir riskieren eine Menge, wenn wir uns für ein Leben auf diesem Blauen Planeten entscheiden. Freilich: wir haben uns ja gar nicht selber entschieden; eine liebevolle, Mut machende Erziehung führt dazu, dass junge Menschen dem Leben mit einem unternehmungslustigen „Hoppla, da bin ich“ begegnen. Aber man kann Kindern auch derart alle Lebensfreude vorenthalten, dass sie den schwarzen Wunsch hegen, nie geboren zu sein.

Wer sich dann aber traut, traut sich fast alles! Mitteleuropa scheint ausnahmsweise eine der Regionen auf Erden zu sein, die ihre Menschenkinder keinem besonderen Risikotraining unterzieht. Man vergleiche: Millionen Kinder im Golf von Bengalen müssen lernen, während der jährlichen Taifune und Hochwasser bei der Blitz-Evakuierung der elterlichen Hütten zu helfen und dabei nicht zu ertrinken. Kinder der Buschleute in Namibia und anderer Halbwüstenbewohner lernen, auf die geringsten Anzeichen für verborgene Wasservorräte zu achten. Kinder, die an den Hängen der aktiven Vulkane groß werden, lernen, für die fruchtbare Erde dankbar zu sein und trotzdem immer wachsam zu bleiben. Erdbeben-Vorsorgetraining ist Schulfach überall im Erdbebengürtel der Erde. Inuit-Kinder müssen auch heute noch lernen, im arktischen Winter nicht zu Schaden zu kommen. Kleinbauern-Kinder, die Vögel oder Affen von den Feldern vertreiben, tragen Mitverantwortung für das tägliche Brot ihrer Familien. Eine Risiko-Liste des Lebensraums Erde, ellenlang und faszinierend zugleich.

Soll ich mich an die himmlische Beschwerdestelle wenden und für alle Kinder die Senkung des schöpfungs-abhängigen Lebensrisikos, sagen wir, auf EU-Standard fordern? Ich weiß nicht! Vielleicht kann man sich ja auch im Himmel als Bittsteller lächerlich machen. Außerdem, diese Schule der Lebenstüchtigkeit mit ihren so ganz verschiedenen Stundenplänen und Lernzielen, die finde ich schon toll. Und weil ich die menschliche Evolution für einen kostbaren Bestandteil der Schöpfungsgeschichte halte, gehört auch der Mut, riskante Lebensräume zu wählen und darin über viele Generationen zurecht zu kommen, dazu.

Davon zeugen auch die packenden farbigen Holzschnitte alter japanischer Künstler, auf denen sie historische Tsunamis darstellen. Auch die waren schlimm, haben viele Kinder ertränkt und Dörfer in die See gerissen. Aber Land und Meer waren hinterher wieder friedlich und Leben spendend. Das ist der Unterschied zu dem, was aus dem Tsunami vom 11. März 2011 folgte.

So verhält es sich vielerorts: durch die Schöpfung gesetzte Risiken, mit denen menschliche Gemeinschaften überleben konnten, mutieren zu menschengemachten Risiken, mit denen Menschen nicht länger leben können. Wenn die Dürre am Südrand der Sahara infolge des Klimawandels zum Dauerzustand wird, dann hilft alle Vorsorgeerziehung, die Hirten und Bauern ihren Kindern angedeihen lassen, nicht mehr weiter. Wenn der Hunger nach Öl und Gas verletzliche Lebensräume in Tundra oder Tropenwald vergiftet, dann muss keine Mutter ihren Kindern mehr beibringen, welche speziellen Gaben der Natur zum Leben helfen. Eine lange Liste untragbarer, menschengemachter Risiken.

Fast alle diese untragbaren Risiken haben ein Pack-Ende in unserer verkorksten Konsum-Zivilisation. Also, anpacken, wir alle miteinander!

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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