Kiew oder Rio?

Mit der Zeit ist es, wie mit dem Geld. So, wie ich den Euro nur einmal ausgeben kann, sind auch die knapper werdenden Stunden meiner Lebenszeit nur begrenzt nutzbar. Multi-Tasking, wie es einst Napoleon nachgesagt wurde und heute als Arbeitnehmertugend gepriesen wird, klappt auf die Dauer einfach nicht. In diesen Sommerwochen 2012 steht für mich diesbezüglich ein Härtetest bevor: am 9. Juni wird´s für Jogi´s Truppe ernst mit der Fußball-EM. Zwei Wochen später beginnt in Rio der „Rio+20 Erdgipfel“ der UNO. Dort wird über die Zukunft meiner Enkel, ihrer Zeitgenossen und Mitgeschöpfe gestritten und verhandelt. Solange der Fan-Virus mir nicht den Verstand vernebelt, ist klar, wie unterschiedlich hoch der Einsatz ist, in den Stadien bzw. am Zuckerhut. Hier geht geht es um Erfolg oder Misserfolg deutscher Fussball-Millionäre; nicht mehr als das – wenn auch mit viel medialem Testosteron aufgeblasen zu einer Entscheidungsschlacht über das Lebensglück der Nation. Der das sagt, ist kein Verächter des Kicks. Meine erste Liebe war Preußen Münster, Oberliga West 1949.

 In Rio jonglieren die Regierungen der Welt mit einer der letzten großen friedlichen Gelegenheiten, die Kreisläufe des Lebens einvernehmlich zu schonen und zu schützen. Es geht um nicht weniger als um Brot und Wasser, zukunftsfähige Energien, die Aufteilung unentbehrlicher Rohstoffe und buchstäblich die Luft zum Atmen für uns alle.

Jetzt angenommen, unsere Jungs überstehen die EM-Vorrunde, die noch vor Beginn der Rio-Konferenz abgewickelt wird. Dann zappelt der globale Überlebens-Ratschlag unbeachtet und hilflos in den Kurznachrichten und Pinkelpausen zwischen den Halbzeiten einer für deutsche Seelen immer schicksalhafter werdenden EM. Rio? Spätestens ab Viertelfinale eine absolute No-go-Location für mit Frust- oder Sieger-Bier abgefüllte Männer. Umso sicherer, als unsere Kanzlerin gemäß aktueller Nachrichtenlage sowieso nicht die Absicht hat, nach Rio zu fliegen. Und was „Mutti“ streicht, dürfen wir Schweini-Fans ja wohl auch ignorieren, ohne uns dafür zu schämen.

Bleiben als Hoffnungsträger für angemessenes politisches Engagement nur jene 50% meiner Landsleute, denen der Fußball ziemlich bis völlig schnuppe ist. Ich könnte da meine Frau beisteuern und sie bitten, sich etwas gründlicher um den globalen politischen Wetterbericht zu kümmern und bei passender Fußball-freier Gelegenheit meiner Ahnungslosigkeit abzuhelfen.

Oder zermartere ich mir Hirn und Gewissen ganz unnötigerweise? Kommt es am Ende viel weniger auf „die da oben“ bzw. da unten in Rio an als auf mich und meinesgleichen? Die Papiere von Weltkonferenzen sind geduldig, voller erklärter oder stiller Vorbehalte und Hintertüren. Der Blaue Planet hat allein dann eine von Leben geprägte Zukunft, wenn Normalos wie ich das wollen und die biologischen und sozialen Geschäftsbedingungen dafür akzeptieren, im Alltag und auf Dauer. Um einen ungesslichen Nervtöter aus der Werbung zu zitieren: MEIN Auto, MEIN Haus, MEIN Urlaub. Mein Tun und Lassen. Mein Maß oder aber meine Maßlosigkeit und -mittelbar – Unmenschlichkeit!

Ist dem wirklich so, dann darf ich aktuell vielleicht etwas weniger auf dem Laufenden sein, als ich es sonst für meine Bürgerpflicht halte. Denn jeder Tag nach Rio ist unvermeidlich einer, an dem es auch auf mich ankommen wird, damit so etwas wie Rio+20 überhaupt Sinn macht.

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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