Drei Pfandflaschen für mich

Fastenaktion 2013, 4. März

Die automatische Ansage im Regionalzug kündigt mein Reiseziel an. Ich krame meine Siebensachen zusammen, greife das Fahrrad und bugsiere es Richtung Tür. Da taucht im letzten Augenblick doch noch der Schaffner auf. Im Stehen Fahrkarte und Bahncard rauskramen, während der Zug über allerlei Weichen rumpelt, das ist etwas umständlich. Aber der Mann in Blau ignoriert fürs Erste den einzigen Fahrgast im Fahrradabteil. Er greift sich den Zivilisationsmüll, den ausgestiegene Fahrgäste zurückgelassen haben; offensichtlich ein Rudel Fußballfans auf dem Weg nach Berlin. In seinen Armen wird es eng. Da wendet er sich mir zu, mustert mich einen ausführlichen Augenblick lang. Dann greift er drei leere Plastikflaschen und will sie mir reichen. „Hier, die kannst Du haben. 22 Cent Pfand auf jede!“

Ist es das überraschende „Du“ als Anrede für einen unverkennbaren Opa? Fahrrad, Wollmütze, einfache Jacke und grauer Bart, reicht das als Sekundenanalyse für Armut? Armut, die Flapsigkeit im Umgang erlaubt? Jedenfalls bin ich leicht irritiert und höre mich sagen: „Nein danke, meine Rente ist ganz gut.“

Eine allzu herablassende überflüssige Bemerkung! Das ist mir bereits klar, als ich den Zug abfahren sehe. Tatsächlich wird meine Pension deutlich höher ausfallen als der Lohn des Schaffners. Man weiß ja, dass die Bahn ihr Zugbegleitpersonal knapp hält. Aber der Mann kommt herum. Er weiß, dass es in Deutschland keinen Bahnhof gibt, auf dem nicht Arme – Männer zumeist – die Abfallbehälter tagtäglich durchwühlen auf der Suche nach Plastik und Glas, das den Pfandverordnungen unterliegt.

Dreimal 22 Cent, dafür muss man schon etliche Abfallkörbe mit eigener Hand durchstochern. Zehn Jahre HartzIV sind unter anderem auch zehn Jahre Müll durchsieben.

Wie viele Mütter auf Reisen mussten ihren Kleinen wohl schon antworten auf Fragen der Art: „Mama, was macht der Mann denn da?“ Das kleine Hygiene-ABC haben die allermeisten von uns intus, auch die, die finanziell abgestürzt sind – die sich schließlich ein Herz fassen und mit zwei großen Plastiktaschen durch Bahnhöfe und Fußgängerzonen ziehen. Das ist nicht ehrenrührig, sondern lebenstüchtig, will ich meinen. Gegen unerwünschtes Vollschmieren mit Ketchup- oder Mayonnaise-Resten hilft ein Plastik-Handschuh, gegen befremdete Blicke von Mitbürgern, die es nicht nötig haben, braucht man schon ein starkes Herz.

Ich kann´s nicht wieder gut machen. Dabei hätte ich den Drei-Flaschen-Deal schon auf meinem Heimweg vom Bahnhof zu einem sinnvollen Ende bringen können. Der Weg führt ja an einem Haus vorbei, da wohnt ein dorfbekannter Pfandprofi, einer, der es bestimmt nötig hat. Der bückt sich auch für nur 8-Cent-Bierflaschenpfand. Dem hätte ich die drei 22-Cent-Nuggets ja einfach neben die Tür legen können. Er hätte sie nicht liegen lassen.

Auch er hat´s inzwischen schwer, als „Pfand-Aufstocker“. Das verstehe ich, als ich einen Tag später, am Sonntagmorgen, wieder auf den Zug warte. Meist ist man um diese Zeit alleine. Heute nicht. Zwei große Taschen stehen auf dem noch leeren Bahnsteig. Ihr Besitzer, sehe ich, ist in das Gleisbett hinunter gestiegen und bückt sich nach allerlei Müll. Unser Dorfbahnhof ist auch ein Ort zum Party machen. Leergut wird achtlos entsorgt. Aber nur zweimal hält der Mann fest, was er aufgehoben hat. Pfandgut, erkennt sein Kennerblick. Die folgenden zehn Minuten sehe ich ihn dann alles Gebüsch oberhalb des Bahnsteigs durchsuchen. Verwahrlosungsmüll ohne Ende, dazwischen magere Ernte. Selbst ein Dorf hat inzwischen seine Pfandflaschensammler-Riege; vermutlich nicht ohne Konkurrenzprobleme.

Was habe ich gelernt? Unter uns leben Abertausende lebenstüchtiger Armer, die sich Zimperlichkeit nicht leisten können. Der Skandal ist nicht ihre irritierende Sammlertätigkeit, sondern dass so Viele darauf angewiesen sind. Hartz IV lässt sich eben nicht schön reden.

Ich werde sicherlich nicht damit anfangen, im Supermarkt Getränke zu kaufen, um die ich bisher mit guten Gründen einen Bogen gemacht habe. Konsumieren mit eingebautem Almosen-Effekt wird auch ohne das zu einem immer populäreren Irrweg in unserer Gesellschaft. Nach dem Motto: 4,99 € für den Luxus-Burger und 1 Cent Wechselgeld in die Spendendose auf der Theke.

Aber wenn ich das nächste Mal einen Müll-Explorer treffe, will ich mir ein Herz fassen und riskieren, ihn ansprechen.

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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