Freihandel: ein Lieblingsgericht wird unerschwinglich

 

Reisen bildet. Nicht nur den Grips, sondern auch den Gaumen. So ist es den Bundesbürgern der Nachkriegsgeneration gegangen, als sie in Bella Italia die Wonnen der Pizzerien kennenlernen durften. Zurück in Deutschland haben sie mit ihren lukullischen Erinnerungen einer ganzen gastronomischen Branche den Weg bereitet.

 Mein gastronomisches Schlüsselerlebnis hat, verglichen mit all den Ethno-Food-Wellen, die inzwischen über uns gekommen sind, jenseits des Privaten keine Wirkung gezeigt. Ich mag es trotzdem nicht missen. Seit einer Reihe von Arbeits- und Lernreisen zu Bürgerrechtsinitiativen im ländlichen Südindien liebe ich die einfache Grundmahlzeit, die dort häufig endlose Konferenztage beendet hat : ungeschälten Reis mit etwas gut gewürztem Gemüse und frittierte Bällchen aus den „Dhal“ genannten roten Linsen, dazu frisches Wasser.

 Meine Frau hat das Gericht in den langen Jahren, die seither ins Land gegangen sind, hunderte von Malen nachgekocht, so gut, wie eine Nicht-Inderin das kann. Manche anfangs eher skeptischen Tischgäste haben sich lustvoll die Schnute geleckt und nach dem Rezept gefragt.

 Um ein Arme-Leute-Essen handelt es sich – wohl verstanden – ganz und gar nicht. Alles, was der arbeitende Mensch für Kraft und Gesundheit braucht, ist in dem einfachen Gericht enthalten. Der Reis liefert die Kohlehydrate, und – weil ungeschält – zusätzlich jede Menge Vitamine und Spurenelemente. Die Linsen gehören zu den wertvollsten vegetarischen Eiweißlieferanten. Und das Pflanzenfett zum Frittieren stellt den dritten Pfeiler guter Diät sicher. Manches Mal habe ich Animatorinnen im Staub indischer Dorfplätze zu Landarbeiterfrauen über den Segen dieser Grundnahrungsmittel sprechen hören. Wenn der Tagelohn wenigstens für diese Basis reicht, dann haben die Leute die Kraft, um Löhne zu kämpfen, die auch das andere Lebensnotwendige erschwinglich machen.

 Die Erinnerung an diese unvergessliche ernährungspolitische Bildungsarbeit im Schein von Straßenlaternen wird in Advent 2013 in mir wach. Da höre ich von dem Kompromiss, mit dem die Welthandelskonferenz WTO ihre Konferenz in Bali beendet hat. Das Gerangel um globalen Freihandel hat nur deshalb zu einem inhaltlichen Ergebnis geführt, weil Indien sich bei der Verteidigung seiner Interessen mit einem Teilerfolg zufrieden gegeben hat.

 Niemand vermag es seriös auf zehn Millionen genau zu sagen, aber kein Staat auf Erden zählt mehr Hungernde zu seinen Bürgerinnen und und Bürgern, vor allem zu seinen Kindern, als das gewaltige Indien. Die Regierung bietet ihren armen Leuten deshalb Grundnahrungsmittel zu günstigen Sonderpreisen an und bezahlt Kleinbauern als Lieferanten etwas besser. Das ist natürlich kein Freihandel, wie Marktwirtschaftsapostel ihn lieben. Trotzdem können auch andere Staaten mit vielen hungernden Menschen nicht anders, als Ähnliches zu planen.

 Angesichts dessen ist das Ergebnis von Bali verheerend. Indien war mächtig genug, um gerade noch fünf Kilo subventionierten Reis oder anderes Getreide pro hungrigem Maul oder Mäulchen durchzusetzen. Aber für Hülsenfrüchte und Kochfette gilt künftig: Fehlanzeige. Und was Indien zugestanden wird, bleibt allen anderen Hungerländern vertraglich verboten. Ernährungssicherung als Staatsziel wird so zu Schall und Rauch. Denn Freihandel meint immer die Zahlungskräftigen, hüben und drüben, und nie die Hungerleider.

 Das wir uns nicht falsch verstehen: mein Reis-Dhal-Gemüsegericht schmeckt mir wirklich, nicht nur unter Zuhilfenahme entwicklungspolitischer Argumente. Aber künftig werde ich nur schwer verdrängen können, dass so manche Familienmutter in Südindien ihre liebe Not haben wird, die bescheidenen Zutaten noch zusammen zu bekommen. Reis allein ist essbar, ungeschält sogar besonders gesund. Aber diese neue Freihandels-Diät: erschwinglicher Reis ja; erschwingliche Eiweißkost und Fette nein, ist nicht nur hirnrissig. Sie zeugt von der unmenschlichen Gedankenlosigkeit des Mammon.

 Meine Regierung hat in Bali mit am Tisch gesessen.

 

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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