Unser täglich Fleisch gib uns heute!

Nein, meinen Senf muss ich nicht auch noch dazu geben. Die Internet-Hymne einer kleinen Gemeinschaft von Veganern auf einen deutschen Haustier-Bullen, der den Unfalltod seines Halters verursachte, hat das angemessene Echo ausgelöst – und zwar bei denen, die sich einer zukunftsfähigen bäuerlichen Landwirtschaft im Allgemeinen, und vegetarischer bzw. veganer Lebensweise im Besonderen verpflichtet fühlen.
Wenn ich die Wutlyrik der Bullenverehrer nachlese, werde ich freilich daran erinnert, wie wichtig es ist, im gesellschaftlichen Streitgespräch selber das eigene Wort zu prüfen, ihm den Weg in die Öffentlichkeit zu verwehren, wenn es Mitmenschen verhöhnt und meiner Sache schadet. In gewissen Abständen kann ich diesen Rat gebrauchen.

Den bösen Ausrutscher darf ich auf sich beruhen lassen. Die Frage, welche Landwirtschaft und welche Speisezettel unsere Kinder und Enkel im 21. Jahrhundert brauchen, damit ihnen schreckliche Hungerkriege erspart bleiben, ist ungleich wichtiger. Die industrialisierte Landwirtschaft mit ihrer Mikrowellen-Speisekarte kann es jedenfalls nicht sein. Die geht viel zu verschwenderisch und rücksichtslos mit der Handbreit Ackerkrume und den Wasservorräten des Planeten um. Sie erzeugt notorisch nicht das, was bis zu zehn Milliarden Menschen Tag für Tag zum Leben brauchen werden, sondern das, wofür heftig umworbene Verbraucherinnen und Verbraucher am liebsten ihr Geld hinlegen.
Um der Wirklichkeit des Nahrungsmittel-Weltmarktes gerecht zu werden, müssten wir deshalb eigentlich das prominenteste Gebet der Christenheit redigieren: „Unser täglich Fleisch gib uns heute!“
Auf unseren Tellern bleibt zwar noch ein Plätzchen für Pommes, Mayo und Salat. Aber das Stück Fleisch ist die reinste optische Täuschung. In Wahrheit ist es mehrfach so groß, wie es ausschaut. Denn in ihm steckt je nach Schlachttier – Huhn, Schwein oder Rind – noch mehrfach dieselbe Kalorienmenge – in Gestalt an die Tiere verfütterter vollwertiger menschlicher Nahrungsmittel. Eine Wahrheit, die seit einem halben Jahrhundert gebetsmühlenartig von Ungezählten wiederholt wird, denen an Brot, Reis und Mais für die Welt liegt.

Damit sind wir bei der bäuerlichen Bio-Landwirtschaft als Messlatte für Zukunftsfähigkeit. Und was ihre Tierhaltung mit dem sehr viel kleineren Schlachtfleischangebot angeht, wieder beim Original-Vaterunser: zu Jesu Zeiten wie heute. Da gilt das tägliche Brot wieder als Lebensgrundlage und das Passahlamm als die festliche Besonderheit. Den Alten in unserer Gesellschaft lief in Kindertagen entsprechend beim Gedanken an den Sonntagsbraten noch das Wasser im Mund zusammen.
Mein Kopf steckt voll von Bildern und Erlebnissen mit Bauern und ihrem Nutzvieh, in Kindertagen hierzulande und später unter Kleinbauern in drei Kontinenten. Der große gemeinsame Nenner, quer durch Jahrzehnte und Kontinente: eine bäuerliche Ethik, die dem Tier, solange es lebt, gibt, was es braucht. Die Bauern, die mir den Umgang mit Kühen und Kälbern erklärt haben, musste niemand darüber belehren, dass Säugetiere Vergnügen und Schmerz, Angst und Geborgenheit empfinden können. Tierquäler standen im Verruf. Für Kohlehändler und Milchwagenlenker galt am Feierabend die Goldene Regel: Erst das Pferd, dann der Mann! Als ich anfing, von Berufs wegen zu reisen, ging diese an ethische Leitbilder gebundene bäuerliche Landwirtschaft in Deutschland bereits nach und nach an den Marktgesetzen zugrunde.
In indischen und afrikanischen Dörfern trat sie mir unter anderen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wieder entgegen. Da waren es manchmal ein einziges Rind, ein halbes Dutzend Hühner, dem Fürsorge, Wertschätzung und Hoffnungen galten.
Es kam auch vor, dass Gastgeber eines ihrer weniger Hühner, hoffentlich einen überzähligen Junghahn, mir zu Ehren zubereiteten. Ich habe versucht, ein angenehmer Gast zu sein.

Vegetarismus als Teil der Identität habe ich bei den Angehörigen der hohen Kasten des Hinduismus kennengelernt. Getragen von einem religiösen Menschenbild, in dem wir mit den Tieren untrennbar verbunden sind. Indiens Kastenlose, die Dalits, essen Fleisch – vorausgesetzt, sie können es erschwingen – weil sie genau in dieser Weltordnung die mit Verachtung Geschlagenen sind. Der elitäre Brahmanen-Vegetarismus hat seine wenig schmeichelhafte Kehrseite.

Die drei sog. monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam haben den Vegetarismus ganz und gar nicht in ihre Weltsicht eingebaut. Verkürzt gesagt, das Blut der tierischen Sühne- und Dankopfer steht dagegen. Die Hirten- und Binnenfischer-Wirtschaft Israels/Palästinas legte vegetarische Speisezettel auch nicht besonders nahe.

Wer sich , unweigerlich beeinflusst von unserem religionsgeschichtlichen Erbe, heute für konsequent vegetarische Ernährung entscheidet, tut das einfach, weil sie und er sich wohl dabei fühlen. Da reicht ja! Oder diese ZeitgenossInnen leben ganz bewusst ihren Widerspruch gegen böse Missstände unserer Zeit. Das haben auch Christenmenschen immer wieder getan – getreu der berühmten Martin Niemöller-Frage: „Was würde Jesus dazu sagen?“
Es ist sicher eine alberne Idee, den historischen Jesus heute an verschiedenen Buffets vorbei zu führen und die Happen auf seinem Teller für unsere Kontroversen auszuschlachten. Aber er würde sicher auf einer Party der Anonymen Alkoholiker keinen Wein verlangen, obwohl er ihm schmeckte. Und er würde sich entschieden von den Angeboten jeder Mammon-Ökonomie abwenden. „Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, und nähme dabei Schaden an seiner Seele?“

Bleiben die bis ins Detail vegan lebenden Nachbarinnen und Nachbarn – nicht in einen Topf zu werfen mit denen, die sich da neulich vergaloppiert haben. Stimmen, die mir schon so oft guten Rat gegeben haben, sagen mir, ich solle mir die Häme beim Reden über Veganismus abgewöhnen. Ich bemühe mich.
Aber ich komme nicht los von dem Urteil, dass 100%-Veganismus wohl ohne das Auffangnetz unserer Erste-Welt-Gesellschaft überhaupt nicht zu leben ist. Er ist okay, aber er darf nie und nimmer zur totalitären Lebensrichtlinie für sieben Milliarden Mitmenschen erhoben werden. Abermillionen Kleinerzeuger von Eiern, Milch, Honig, Wolle, Leder, der ganzen Palette von Lebensmitteln tierischen Ursprungs eben, dürfen nicht einfach den riesigen moralischen Zeigefinger entgegen gehalten bekommen. Ganze in Jahrtausenden gewachsene Ökonomien, Hirten, Fischer, Viehhalter dürfen nicht ahnungslos übers Knie gebrochen werden. Veganismus als ethischer Anspruch, etwa in den Flüchtlingslagern unserer Zeit? Irre!

Aber wer bin ich, über Lebensstile und Lebensziele zu richten? Ich habe für´s Erste genug damit zu tun, dass das Vaterunser bei mir zu Hause nicht redigiert werden muss.

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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